Es war die Graugans, die mich auf den Tod von Peter Radtke hingewiesen hat … meine Frau war bzw. ist ebenfalls ganz begeistert von ihm:
Peter Radtke war Mitbegründer des „Münchner Crüppel-Cabarets“, spielte in Kafka-Stücken, gab den Großinquisitor: Der Schauspieler, der unter der Glasknochenkrankheit litt, haderte nicht mit dem Leben, sondern sah sich als Brückenbauer.
Er war bereits mit drei Knochenbrüchen auf die Welt gekommen und die Ärzte gaben ihm nur wenige Monate. Peter Radtke litt unter der Erbkrankheit „Osteogenesis imperfecta“, umgangssprachlich auch als „Glasknochen-Krankheit“ bezeichnet. Ursache dafür ist eine Mutation, die das Kollagen beeinflusst, ein wichtiges Bindemittel im menschlichen Skelett. Wie Radtke dem BR einmal sagte, war sein Körper schließlich von „mehr als 100 Knochenbrüchen“ gezeichnet: „Dadurch sind mitunter auch die Gliedmaßen verkrümmt oder verkürzt.“
Als er 1943 in Freiburg geboren wurde, war das für seine Mutter, eine Krankenschwester, eine enorme Herausforderung, galten Behinderte im Nationalsozialismus doch grundsätzlich als „lebensunwert“. Viele wurden ermordet. Um ihn möglichst geschützt aufwachsen zu lassen, zog die Mutter daher nach Regensburg um. Der Vater war nach Radtkes Ansicht ein „nicht ganz so erfolgreicher Schauspieler“, der wegen seiner Tuberkulose viel Zeit im Sanatorium verbrachte. In einem Dokumentarfilm sagte Ernst Radtke über seinen Sohn, er sei stolz darauf, was dieser „tragische Mensch“ geschafft habe – eine Aussage, die Peter Radtke nach eigenen Worten ziemlich „geplättet“ zurück ließ.
Seine schweren gesundheitlichen Einschränkungen hätten sogar einen „Vorteil“, sagte Radtke bei einem Interview zu seinem 70. Geburtstag einmal dem BR: „Ich brauche nicht zu erklären, dass ich Hilfe brauche. Wir machen oft die Erfahrung, dass Menschen, die eine leichte Behinderung haben, sich im Alltag oft schwerer tun, weil sie vorgeben wollen, dass sie alles noch selbst erledigen können, aber tatsächlich können sie es gar nicht.“
Von 1957 bis 1961 absolvierte Peter Radtke eine Dolmetscherausbildung in Englisch, Französisch und Spanisch an einer privaten Fremdsprachen-Schule in Regensburg. Dank des außerordentlichen Engagements der Mutter konnte er 1963 an der Universität Pennsylvania das „Certificate in American Culture and Civilization“ ablegen. Von 1964 bis 1968 besuchte er das Abendgymnasium Regensburg, machte dort Abitur und studierte danach von 1968 bis 1976 Germanistik und Romanistik an den Universitäten Regensburg und Genf mit abschließendem Erstem Staatsexamen und Promotion.
Ohne die Doktorarbeit, so Radtke im BR, hätte er vermutlich nicht seine erste Anstellung bei der Münchner Volkshochschule bekommen. Dort war er von 1977 bis 1984 Fachgebietsleiter für das „Behindertenprogramm“. Seit 1984 bis 2008 war er Geschäftsführer und Leitender Redakteur der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien. Von 2003 an saß er Mitglied im Nationalen Ethikrat, seit 2008 auch in dessen Nachfolge-Institution Deutscher Ethikrat.
In dieser Eigenschaft engagierte sich Radtke gegen die Konsequenzen der Pränatal-Diagnostik, also die Möglichkeit, Erbkrankheiten von Embryos bereits im Mutterleib festzustellen und den betroffenen Eltern dadurch die Entscheidungsfreiheit zu geben, den Fötus abzutreiben: „Wenn ich sehe, in welche Richtung unsere Gesellschaft in den letzten Jahren marschiert, gerade in medizinischer Hinsicht, also in eine Welt, in der Krankheit und Leid angeblich nicht mehr notwendig sind, weil der medizinische Fortschritt das verhindern kann, da graust es mich“, sagte Radtke dem BR.
Auftritt im Affenhaus des Berliner ZoosAuftritt im Affenhaus des Berliner Zoos.
Den Kampf gegen die Pränataldiagnostik könne er auch deshalb nicht aufgeben, so der Schauspieler, weil sehr viele Künstler aus medizinischer Sicht „behinderte Menschen“ gewesen seien und „gerade durch ihre Behinderung nach artistischen Wegen“ gesucht hätten, um sich auszudrücken. Als Beispiele nannte er Ludwig van Beethoven, Henri de Toulouse-Lautrec und Friedrich Hölderlin.
Peter Radtke in der der Kafka-Erzählung „Bericht für eine Akademie“ (Regie: George Tabori):
„Ich habe immer versucht, eine Brücke zu bauen“, so Radtke: „Menschen mit Behinderung sind gar nicht so anders als Nichtbehinderte. Sie haben teilweise dieselben Probleme, Kommunikationsprobleme zum Beispiel.“ Als er 1982 das Münchner „Crüppel-Cabaret“ mit begründete, legte er Wert auf das „C“ im Namen, denn die „Krüppel-Bewegung“, die damals in aller Munde war und das Selbstbewusstsein von Behinderten stärken wollte, schrieb sich natürlich mit „K“. Seine Autobiografie „Ein halbes Leben aus Glas“ erschien 1985.
Für teils bizarren Humor war Radtke immer zu haben, so übernahm er die Monolog-Rolle in Franz Kafkas „Bericht für eine Akademie“, ein Stück über die Frage der Menschwerdung und des Menschseins, 1994 im Affenhaus des Berliner Zoos. Ein Kritiker jubelte: „Brillanter hätte man ihn sich nicht denken können. Peter Radtke spielt den Menschen, der ein Affe war, mit selbstvergessener Grandezza. Umgeben von Vertretern beider Gattungen, den Zoo-Affen hinter Glas im Rücken und dem mehr oder weniger menschlichen Publikum vor sich, ist er durch und durch der Grenzgänger zwischen Tier und Mensch. Was Kafka 1917 als surrealistisch-philosophische Reflexion erdachte, wird bei Radtke das pure Leben!“
Radtke spielte Kafkas von Alpträumen gepeinigten Gregor Samsa am Wiener Burgtheater und inszenierte in Regensburg George Taboris „Goldbergvariationen“. Er war als Oskar Matzerath zu erleben, allerdings nicht in der „Blechtrommel“, sondern in der Verfilmung der „Rättin“ von Günter Grass. In Ingolstadt war er der „Großinquisitor“ in Schillers „Don Karlos“, und in einer freien Produktion in der Münchner Muffathalle der Zarathustra.
„Ich streite nicht für die Sache der Behinderten, sondern für eine hoffentlich bessere Gesellschaft, und dann profitieren hoffentlich auch Menschen mit einer Behinderung davon“, so Radtke, der mit seinem Leben jedenfalls nach außen in keiner Weise haderte: „Ich habe noch nie einen Fuß auf die Erde bekommen und bin in Afrika gewesen, in Asien und Amerika!“
Im Alter bilanzierte er: „Ich glaube, dass ich im Leben nichts versäumt habe, was so wichtig wäre, dass es aufwiegt, was ich auf andere Weise wieder gewonnen habe.“ Und als lieb gewonnenes Motto zitierte er gern einen Ausspruch des früheren tschechischen Präsidenten Václav Havel: „Hoffnung heißt nicht, dass alles gut ausgeht, sondern das alles, was ausgeht, gut ist.“
Peter Radtke starb bereits am Samstag im Alter von 77 Jahren in München. Das teilte die vom Schauspieler selbst gegründete Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien „abm“ heute mit. (Bayerischer Rundfunk, 30.11.2020)
Als kleine Erinnerung an einen ganz besonderen Menschen gibt es nun ein Interview mit Peter Radtke (ursprünglich ausgestrahlt im Jahr 2013 in der BR Sende-Reihe „Eins zu Eins“)
Besetzung:
Norbert Joa und Peter Radtke
Titel:
01. Norbert Joa im Gespräch mit Peter Radtke 43.18
Peter Radtke
(* 19. März 1943 in Freiburg im Breisgau; † 28. November 2020 in München)