Tocotronic ‎– Pure Vernunft darf niemals siegen (2005)

FrontCover1Auch wenn ich nicht zur Zielgruppe dieser Indie-Rock-Band gehöre, irgendwie finde ich sie, also die Musik und auch die Texte arg sympathisch:

„Aber hier leben, nein danke …!“ Diese Textzeile schwirrte mir schon vor Tocotronic öfter mal im Hirn herum. Jetzt kann ich sie auch noch melodisch umsetzen und bin gerade zu besessen davon. Die Single ist ein echter Ohrwurm. Er klebt am liebsten morgens früh in meinem verrauchten Gehörgang, wenn ich mal wieder aus meiner Lieblingskneipe torkele. In diesem Zustand sind derartig einprägsame Refrains von Vorteil, denn schließlich möchte man öfter mal den Ort oder gleich lieber das ganze Land fluchtartig verlassen. Vor allem, wenn man nicht mehr stehen kann.

Das neue Tocotronic-Werk insgesamt lässt mir allerdings mit dem Auswandern noch etwas Zeit. „Pure Vernunft Darf Niemals Siegen“ ist ein „Diamant aus dem All“, und dafür lohnt es sich noch, ein wenig zu bleiben und den Jungs bei ihren Träumereien im Grünen Gesellschaft zu leisten. Dirk, Jan und Arne stehen nicht allein im Wald der Hoffnung. Langzeit-Keyboarder und Konzertbegleiter Rick McPhail ist ab sofort offizieller Tocotronicer und Zweitgitarrist, was man durchaus zu hören bekommt. Mit „K.O.O.K“ fing schon 1999 ein neuer Schulabschnitt an, und die bösen Journalisten krampften mit der Erkenntnis: „Wir müssen schließlich alle mal erwachsen werden“. Fest steht, dass jede Gitarrenband gerne herumexperimentiert, und da liegt es nah, sich mit elektronischen Sounds zu beschäftigen.

Ab jetzt ist es nicht mehr so einfach, die Hamburger Pophymnen auf der Gitarre nachzuspielen. Tja, da muss man sich halt selber mal was einfallen lassen. Mit „K.O.O.K.-Variationen“ setzen sie ein Jahr später sogar noch einen drauf und lassen das komplette Album von diversen Profis remixen. Die Weiße war sogar elektronisch so ausgetüftelt, dass die Jungs leider während ihrer Live-Auftritte mit der Umsetzung der Songs etwas Probleme hatten.

Dirk von LowtzowVielleicht auch ein Grund, sich mit „Pure Vernunft Darf Niemals Siegen“ wieder mehr auf die Gitarrenklänge zu konzentrieren und das Album in nur neun Tagen live einzuspielen. Das hört man auch beim gleichnamigen Song: „Wir sind so leicht, dass wir fliegen …“ heißt es da, und niemals fiel es einem leichter, ein verträumtes Lalala mitzuträllern. Es darf also nach einigen Soloausflügen (Dirk mit Phantom/Ghost, Jan und sein Bierbeben, Arne als Solo-Elektroniker) wieder gerockt werden, und es lohnt sich, die Trainingsjacken im Schrank aufzubewahren. Kritische Nörgeleien und versteckte Liebeslieder findet man auch nach zehnjähriger Bandgeschichte, das legt uns Dirk mit der ersten Pophymne „Aber hier leben, nein danke“ sofort ans Herz. Hier mischen sich positive Gedanken mit negativer Realität. Die Liebe zur Romantik nimmt man berauscht im „Achten Ozean“ wahr („Küss mich, Küss mich, bis ich nicht mehr kann …“) und lässt sich einfach treiben.

„Weine nicht, denn dein Gesicht ist viel zu schön …“. Herr von Lowtzow versteht es nach wie vor, einfühlsame Worte in der richtigen Tonlage zu finden. Hier möchte man gerne der „Angel Of Love“ sein. Manchmal stellt sich schon die Frage, ob man derartige Weichspülklasse auch bei anderen deutschsprachigen Bands akzeptieren würde? Definitiv nein! Das dürfen nur die „wahren Hamburger“, und das verstehen hoffentlich auch nur die, die schon vor zehn Jahren „Teil einer Jugendbewegung“ waren. Da darf dann auch gerne mal was „Gegen den Strich“ laufen und mit stotternder Vokalstörung locker gereimt werden. Wie heißt es so schön, „wenn der Kuchen spricht, haben die Krümel Pause“.

Tocotronic waren und sind die Retter deiner Seele und bleiben mit dem Indie-Herz fest verknotet. Man darf glücklich mit ihnen altern, egal ob in smarten Hemden oder zerschlissenen Trainingsjacken. ( Jasmin Lütz)

Und je öfter ich mir dieses Album angehört habe, desto froher wurde ich: Auch wenn ich nicht zur Zielgruppe gehöre: Die Jungs beherrschen nicht nur ihr Handwerk, sie haben auch was zu sagen … einfach nur großartig !

TocotronicLive2005

Tocotronic, live 2005

Besetzung:
Dirk von Lowtzow (vocals, guitar)
Rick McPhail (guitar, keyboards)
Jan Müller (bass)
Arne Zank (drums, keyboards, vocals)
+
Oliver Biehler  (clavinet bei 01.)
Lars Bulnheim (guitar bei 07.)
Peta Devlin (guitar bei 07.)
Frank Husemann (guitar bei 07.)
Ben Lauber (drums bei o7.)
Christian Mevs (guitar bei 07.)
Thies Mynther (organ bei 03. + 12.)
Torsten Otto (drums bei 07.)

CoverIllustration

Titel:
01. Aber hier leben, nein danke () 5.09
02. In höchsten Höhen () 4.26
03. Der achte Ozean () 5.25
04. Keine Angst für niemand ()     4.09
05. Gegen den Strich () 4,33
06. Angel () 4.26
07. Pure Vernunft darf niemals siegen () 4.20
08. Cheers For Fears () 4.06
09. Alles in allem () 4.06
10. Mein Prinz  () 4.16
11. Tag der Toten  () 4.46
12. In tiefsten Tiefen () 2.04
13. Ich habe Stimmen gehört () 5.48

Musik: Tocotronic – Texte: Dirk von Lowtzow

CD1

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