Verschiedene Interpreten – Lehrlinge halten zusammen (1969)

FrontCover1Um diese ambitionierte, engagierte und klassenkämpferische LP besser zu verstehen, muss man sich zumindest ein wenig vergegenwärtigen, wie sich Ende der 60er Jahre die wirtschaftliche und soziale der „Lehrlinge“ darstellte. Deshalb hier den Anfang einer „Spiegel“ Titelstory aus dem Jahr 1970, die sich eben ausführlich mit dieser Situation auseinandersetzte:

Der Lehrling soll „es wissen und fühlen, daß er eben noch zu lernen hat“. Der „Begriff des Gehorchenmüssens“ soll „erhalten bleiben“.

Der Lehrling soll sich „treu, fleißig, ehrlich“ verhalten, „seinem Meister und andern ihm vorgesetzten Personen … mit gebührender Achtung und Bescheidenheit“ begegnen.

Der Lehrling soll sich „eines frommen und sittlichen Lebenswandels … befleißigen“ und sich „des Besuches öffentlicher Schankhäuser … während seiner Lehrzeit gänzlich enthalten“.

Der Lehrling soll einer „straffen Zucht“ unterworfen und vor „Phrasen über „Freiheit“, geschützt werden, sonst würde er rasch „die zuverlässigste Phalanx der Agitatoren bilden“.

Lehlings-Demo in Hamburg, 1970

Gutachter — Professoren und Wirtschaftsführer, Handwerksmeister und Gewerbevereinsfunktionäre — haben solche Maximen in einem Sammelband niedergeschrieben. Das war im Jahre 1875. Seitdem hat sich nicht viel geändert.

Fast hundert Jahre später soll der Lehrling zur „Folgsamkeit erzogen werden“ und sich „nicht länger als unbedingt notwendig im Bad aufhalten“. Er soll sich „vor keiner Arbeit drücken“ und „sich zum Aufsuchen der Toilette“ beim Ausbilder ab- und zurückmelden — so stand es noch letztes Jahr beispielsweise in den Lehrlings-Vorschriften der Badischen Anilin- und Soda-Fabrik (BASF).

Und weiter hieß es da: Der Lehrling soll „den Wert des … Pfennigs schätzenlernen“ und „zeitig zu Bett gehen“. Er soll „Ordnung beim Stechen“ (Stechuhren) wahren und „immer an seine Zukunft denken“.

DerSpiegel (18_1970)„Ein froher und höflicher Gruß innerhalb und außerhalb des Betriebes“ gehörte laut BASF-Ordnung „zu jedem anständigen Lehrling“. Hingegen: „Eine Künstlermähne (Beatle-Frisur), gezüchtete Backenhaare oder sogenanntes Philosophenbärtchen sind eines frischen und lebendigen Lehrlings unwürdig.“

Noch immer herrschen in Westdeutschlands Lehrbetrieben strikte Hierarchie und materielle Ausbeutung, wie sie die Bildungsprivilegierten an den Gymnasien und Hochschulen niemals erfahren haben.

Noch immer dürfen Lehrlinge nicht streiken, Lehrlinge unter 18 Jahren nicht an Wahlen zum Betriebsrat teilnehmen. Ihre Jugendvertreter genießen keinen Kündigungsschutz wie etwa Betriebsratsmitglieder.

Noch immer verdienen die meisten Handwerkslehrlinge nur ein Drittel des Hilfsarbeiter-Lohns (100 bis 250 Mark), obgleich sie häufig, spätestens im dritten Lehrjahr, dem Unternehmer soviel einbringen wie Gesellen.

„Noch immer … erfüllt die Lehre in vielen westdeutschen Betrieben“, urteilen die Soziologen Wolfgang Lempert und Heinrich Ebel, „ihre herkömmliche Doppelfunktion, wirkt sie zugleich als Werkzeug der Erziehung zum Untertanen und als Waffe des unlauteren Wettbewerbs.“ Der Spiegel 18/1970)

AufrufNun, ich war zwar nie in der Situation, ein Lehrling zu sein, aber in meinem damaligen Bekanntenkreis kannte ich schon einige, die vom Spruch „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ ihr ganz spezielles Lied singen konnten.

Und von daher war das Anliegen dieses Samplers mehr als ehrenwert und natürlich ein typisches Produkt jener Jahre aus dem Pläne-Verlag … und die paar versprengten DKP-Mitglieder hatten vielleicht nun die Hoffnung, dass es zum Aufschrei und Aufstand der proletarischen Massen kommen könnte. Rockmusik als Transportmittel „radikaler“ Ideen.

Nun, wie wir wissen, war diese Hoffnung trügerisch … Und schon damals hegte ich den Verdacht, dass man mit einer derartigen Musik (Stichwort: wir werden immer mehr) genau jene Massen nicht erreichen kann und wird.

Dehmist dieser Sampler natürlich musikhistorisch ziemlich interessant: Neben dem schon damals durchaus bekannten Dieter Süverkrüp und der Polit-Rock-Gruppe Floh De Cologne sind auch so „Eintagsfliegen“ wie „Die Conrads“, „Interpol“ oder „Vorschlaghammer“ mit ihren Songs zu hören.

Und dann gibt´s noch den Barden Lerryn … und hieter diesem Namen verbirgt sich kein geringerer als Dieter Dehm, der bis heute sich aktiv in Politik und Kultur einmischt. Ursprünglich war er ein langjähriges SPD Mitglied, war entscheidend an dem Erfolg der „Bots“ in Deutschland beteiligt und wechselte dann 1998 zur PDS („Die Linke“) und ist für diese Partei bis heute Mitglied des Deutschen Bundestages.

Der Dehm hat wirklich einen schillernden, zuweilen recht zweifelhaften Lebenslauf hingelegt (es scheint mittlerweile geklärt zu sein, dass er als IM für die Stasi arbeitete). Und damals veröffentlichte er bei Pläne auch eine eigene Single, bei neben dem auf dem Sampler enthaltenen Song „Lehrlings-Machtgebeat“ auch das Lied „Der Gummiknüppelsong“. Und diesen Song habe ich dann noch als Bonus-Titel ergänzend dazugepackt …

Ach ja, mehrfach wird als Texterin Lieselotte Rauner genannt: Lieselotte Rauner war eine deutsche Schriftstellerin, die 1970 den „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ gründete.  Ihr literarisches Werk schilderte vor allem Arbeitsleben und Alltag der westdeutschen Arbeiterschaft schildert und sie zählt für mich zu den eher vergessenen Schriftstellerinnen dieser Zeit.

Allen, die in diesen bewegten Zeiten so allmählich groß gewurden sind schicke ich angesichts dieser zuweilen drolligen Texten einen lieben Gruß !

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Titel:
01. Die Conrads: Hoch vom Dach (Die Conrads/Kollektiv SDAJ) 3.28
02. Floh De Cologne:  Hallo Stift (Floh De Cologne)
03. Interpol:  Schaffen sie sich einen Lehrling an (Interpol) 3.47
04. Vorschlaghammer:  Ballade von den bösen Lehrlingen (Vorschlaghammer/Bücher) 2.52
05. Vorschlaghammer: Armer Anton (Vorschlaghammer) 1.12
06. Die Conrads: Nach dreißig Jahren (Die Conrads/Rauner) 1.45
07. Die Conrads/Hannes Stütz: Dick und Doof in der Fabrik (Stütz) 2.53
08. Dieter Süverkrüp: Das Lied vom Nutzen (Süverkrüp) 2.51
09. Floh De Cologne:  Lehrherr unser (Floh De Cologne) 1.52
10. Interpol: Ich bin so glücklich (Interpol) 3.15
11. Die Conrads & Dieter Süverkrüp: Was ein Lehrling alles lernt (Süverkrüp/Siebert) 0.29
12. Die Conrads: Betriebsgeheimnis (Die Conrads/Rauner) 0.59
13. Lerryn / Dadazuzu: Lehrlings-Machtgebeat (Lerryn/Günther) 3.12
14. Die Conrads & Dieter Süverkrüp: Lehrlingsbilanz (Süverkrüp/Rauner) 0.33
15. Münchner Songgruppe: Lehrlinge zusammenhalten (Münchner Songgruppe) 3.21
16. Die Conrads & Dieter Süverkrüp: Wer hat den Lehrling gemacht (Süverkrüp) 2.26
17. Floh De Cologne:  Wir werden immer mehr (Floh De Cologne) 2.08
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18. Lerryn und Dadazuzu: Gummiknüppelsong (Lerryn) 5.57

Label1

 

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