Arno Schmidt – Die Umsiedler (Hörspiel) (2017)

FrontCover1Seit dem letzten Wochenende beschäftige ich mich ein wenig mit dem Schriftsteller Arno Schmidt:

Arno Otto Schmidt (* 18. Januar 1914 in Hamburg-Hamm; † 3. Juni 1979 in Celle) war ein deutscher Schriftsteller.

Schmidt wuchs in Hamburg und Lauban bei Görlitz auf. Seit 1938 lebte er in Greiffenberg. Von 1946 an lebte er als freier Schriftsteller zunächst in Cordingen, dann in Gau-Bickelheim, Kastel an der Saar und in Darmstadt und seit 1958 schließlich im Heidedorf Bargfeld bei Celle. Sein erster Band mit Erzählungen, Leviathan, erschien 1949. Dieser und seine Werke der 1950er Jahre sind sprachlich von einer ungewöhnlichen, sich oft am Expressionismus orientierenden Wortwahl geprägt. Formal kennzeichnet sie das Bemühen um neue Prosaformen, inhaltlich sind sie von einer kulturpessimistischen Weltsicht und einer angriffslustigen Gegnerschaft gegen das Westdeutschland der Adenauer-Ära geprägt.

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Arno Schmidt, ca. 1950

Seine theoretischen Überlegungen zu Prosa und Sprache entwickelte Schmidt in den 1960er Jahren in Auseinandersetzung vor allem mit James Joyce und Sigmund Freud weiter und suchte seine Ergebnisse in den in dieser Zeit entstandenen Werken (Ländliche Erzählungen im Band Kühe in Halbtrauer, KAFF auch Mare Crisium) umzusetzen. Als Summe dieser Entwicklung erschien 1970 das monumentale Hauptwerk Zettel’s Traum. Sein Spätwerk (Die Schule der Atheisten, Abend mit Goldrand und das Fragment gebliebene Werk Julia, oder die Gemälde) erschien wie Zettel’s Traum in großformatigen Typoskriptbänden.

Außer den für den Autor wichtigen Prosaarbeiten entstanden zahlreiche Übersetzungen aus dem Englischen, Kurzgeschichten, literaturgeschichtliche und -theoretische (Radio-)Essays, eine detaillierte Biografie Friedrich de la Motte Fouqués sowie eine durch die Psychoanalyse angeregte Studie über Karl May (Sitara). (Quelle: wikipedia)

Auslöser für meine Beschäftigung war das experiementelle „Konzert für Arno Schmidt“ … starker Tobak … und da beschloss ich einfach mal, mich von einer anderen Seite diesem Schriftsteller anzunähern.

Und dann fiel mir dieses Hörspiel in die Hände … und obwohl die Basis für dieses Hörspiel, eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1954 ist … könnte es nicht aktueller sein:

Diverse Buchausgaben

Diverse Buchausgaben von „Die Umsiedler“

Vertreibung, Flucht und Hoffnung auf ein neues Leben. Das ist das gegenwärtige Thema. Und das war es einst. 1953 schrieb Arno Schmidt auf Grundlage eigener Erlebnisse den Kurzroman „Die Umsiedler“.

Eine verregnete Dezembernacht des Jahres 1950: Ein Mann verlädt sein spärliches Hab und Gut auf einen Güterzug. Wie viele andere erhofft er sich mit der Übersiedlung aus dem Niedersächsischen nach Rheinhessen einen neuen Anfang. Nach dem zweiten Weltkrieg hatte Deutschland eine Flüchtlingswelle ungeheuren Ausmaßes zu bewältigen – über 12 Millionen Menschen mussten untergebracht werden, in einigen Gebieten verdoppelte sich die Bevölkerungszahl binnen kürzester Zeit. In „Die Umsiedler“ schildert Arno Schmidt die Entbehrungen und Strapazen der erzwungenen Auswanderung: Sture Behörden, bornierte Leidensgenossen, voreingenommene Nachbarn, kernige Flüchtlingsbetreuer, deutsches Organisationswunder und -chaos. Und eine Liebesgeschichte, die für die Entstehungszeit des Romans skandalös war. All das erzählt in der ebenso präzisen wie expressiven Sprache und mit der bissigen Komik dieses großen Autors der deutschen Nachkriegsliteratur. Arno Schmidt verwendete in „Die Umsiedler“ erstmals die von ihm sogenannte Fotoalben-Technik, die literarisch den Prozess des Erinnerns nachbildet: Es „erscheinen zunächst, zeitrafferisch, einzelne sehr helle Bilder (meine Kurzbezeichnung: »Fotos«), um die herum sich dann im weiteren Verlauf der »Erinnerung« ergänzend erläuternde Kleinbruchstücke (»Texte«) stellen […]. Im Leser würde theoretisch solchermaßen zwangsweise die Illusion eigener Erinnerung suggestiv erzeugt werden! (Natürlich muß man ihm hierzu auch schärfste Wortkonzentrate injizieren; cela va sans dire!)“ (Quelle: wdr.de/radio)

Katharina Marie Schubert

Katharina Marie Schubert (Sprecherin)

Die Zeit schreibt im Jahr 2002 über dieses Buch:

„Die Umsiedler“ ist ein früher Roman von Arno Schmidt, von dem uns Reinhard Jirgl erzählt, dass er 1953 ursprünglich erschienen ist. Dann holt er weit aus, um uns Arno Schmidt zu erklären, der selbst ein „Umsiedler“ war und aus Schlesien über Niedersachsen nach Rheinhessen kam. Jirgl stellt uns den Großmeister vor als „Kleinbürger“, der über das schrieb, was er „am besten kannte“, das Milieu, das er früh zu „verachten“ lernte. Aber, so Jirgl, Schmidt schrieb mit „plebejischem Ernst“ und wurde zum „Meister eines neuen Realismus“, dessen „vollkommen neuartige Prosaformen“ zu Anfang „als manieriert und pessimistisch verkannt“ werden mussten, weil keiner es so genau wissen wollte. Es geht in diesem „Kurzroman“ um „die Tage und Wochen auf dem Treck“, auf dem der namenlose Held, Bücherliebhaber und Übersetzer, eine „resolute Frau“ trifft, die sich mit ihm verbündet. So geht es, schreibt Jirgl, „einerseits“ um das „kleinbürgerliche Leben: Monogamie und ein eigenes Heim unterm Regiment des Hauslöwen“, andererseits aber auch um „die geistige Kraft“ der beiden, um die „vereinte Renitenz gegen das falsche Leben“. Das „Geheimnis“ dieses Textes liegt für Jirgl „im Entstehen einer zweiten, unmittelbar bei der Lektüre im Kopf des Lesers sich entfaltenden Gegenwart“. Aus den „strikten Ich-Perspektive des Erzählers“ kann der Leser zu einem „Gesamteindruck einer konkreten sozialen Wirklichkeit“ gelangen. Im „Sprachschöpferischen“ fand Arno Schmidt, so Jirgl, über das „Kleinbürgerliche“ hinaus und zu seiner „Autonomie“. (Die Zeit, 24.10.2002)

Oliver Sturm

Oliver Sturm (Regie)

Flucht und Vertreibung – das Thema ist aktuell. Bemerkenswert, findet es der Regisseur des Hörspiels, Oliver Sturm „dass es nämlich in Deutschland nach dem Krieg eine Flüchtlingskrise innerhalb der deutschen Bevölkerung gegeben hat, die ein viel größeres Ausmaß hatte, als das, was wir heute als Flüchtlingskrise bezeichnen. Es waren nämlich 14 Millionen auf der Flucht, die auch untergebracht und organisiert werden mussten. Und dass es innerhalb der Deutschen einen ausgesprochenen Rassismus gegeben hat, für den es gar keine Ausländer brauchte.“ (Quelle:
Auch Katharina Marie Schubert fühlt sich an vieles aus den Nachrichten von heute erinnert. Sie stellt im Hörspiel Kathrin dar und ist begeistert von Schmidts witziger und wortspielreicher Sprache: „Die macht unglaublich Lust zu sprechen. Diese Metaphern: ‚Die wollüstige Wolke‘, ‚ Mäntel, die sich selber erhängen‘ – das ist ganz schön toll. Und so was würde ich mir im Theater auch viel öfter wünschen, so eine Sprache, die man so kauen kann. Und jetzt meine Rolle, sie ist so etwas wie die belebende Kohlensäure.“ ndr.de/kultur/hoerspiel)

Besonders lebendig wird dieses Hörspiel durch die integrierten Klangimprovisationen und die historischen Radiomitschnitte der damaligen Zeit. Aber zentral bleibt natürlich diese unglaubliche Wortgewalt des Arno Schmidt für das Gelingen dieses engagierten Hörspiels.

Wer Ohren hat, der höre … ein dreifaches Hoch auf das gute alte Hörspiel im Radio !!!

Arno Schmidt: Ich komme …

Eine Co-Produktion NDR/WDR 2017
Nach dem gleichnamigen Kurzroman von Arno Schmidt
in der Bearbeitung von Anna Pein
Erstausstrahlung: 26. April 2017

Tilo Werner

Tilo Werner (Sprecher)

Besetzung:
Katharina Marie Schubert (Katrin)
Jürgen Uter (Sprecher B)
Tilo Werner (Erzähler/Ich/Inneres Ich)
Werner Wölbern (Sprecher A)

Komposition: Sabine Worthmann
Gesang: Almut Kühne
Klarinetten: Silke Eberhard

Regie: Oliver Sturm
Regieassistenz: Anne Abendroth
Dramaturgie und Redaktion: Christiane Ohaus

Titel:
01. Die Umsiedler (Hörspiel) 52.57

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