Hubert Bognermayr & Harald Zuschrader – Erdenklang – Computerakustische Klangsinfonie (1982)

FrontCover1Die beiden haben viele, viel Jahre gemeinsam musiziert:

Hubert Bognermayr (* 6. April 1948 in Linz; † 17. März 1999 ebenda) war ein österreichischer Musiker, Komponist und Pionier der elektronischen Musik. Er war Gründungsmitglied der österreichischen Rockband Eela Craig (1970), einer der Gründer der Ars Electronica-Festivals in Linz (1979) sowie Gründer der Blue Chip Academy (1989). Außerdem nutzte er einige Pseudonyme wie Luis Fernandez und Umberto Hohenstirn.

Ein Schwerpunkt in Bognermayrs Bands und Projekten waren die Zusammenführung von Pop, Klassik und Weltmusik sowie klassische Kompositionsarbeit unter Einbeziehung der elektronischen Musik. Eine beträchtliche Zahl internationaler Aufführungen hatte er in Opernhäusern oder bei Festivals, bis hin zu live im Fernsehen übertragenen Premieren. Für Herbert von Karajan schuf er elektronische Glockenklänge (Parsifal, Salzburg 1980).

Bognermayr leistete bahnbrechende und international anerkannte Arbeit im Bereich der computerakustischen Musik. Um 1980 richtete er gemeinsam mit Harald Zuschrader zu Hause sein „Elektronisches Försterhaus“ genanntes Tonstudio ein und begann, mit den Möglichkeiten des Musikcomputers Fairlight CMI zu experimentieren, dem ersten digitalen Synthesizer mit Sampling-Technik, der also digitalisierte und gespeicherte Klangstücke weiterverarbeitete.

Hubert Bognermayr01Hier entstand als Auftragsproduktion für die Ars Electronica das Werk Erdenklang – computerakustische Klangsinfonie. Premiere war am 28. September 1982 im Brucknerhaus Linz. Das Werk wurde zusammen mit einem Tanztheater und fünf live auf der Bühne gespielten Musikcomputern aufgeführt. In den Liner Notes der LP Erdenklang schwärmt Wendy Carlos:

“… with the appearance of Erdenklang by Bognermayr and Zuschrader the medium of electronic music has crossed another threshold. […] To me it has been a long tedious way for this to happen…” („Das Medium der elektronischen Musik hat mit Bognermayr/Zuschraders Erdenklang eine neue Schwelle überschritten […] Für mich war es ein langer und belastender Weg bis zu diesem Ereignis …“)

Kurz hintereinander spielte er Weihnachtsmelodien auf der LP Sternenklang ein und komponierte das Werk Bergpredigt. Auch diese Veröffentlichungen wurden vollständig auf der ersten Generation des Fairlight CMI unter Zuhilfenahme von Samples natürlicher Töne und Geräusche gespielt. Weitere Produktionen und technische Zusammenarbeit gab es zum Beispiel mit Klaus Pruenster oder Gyan Nishabda. Beide waren auch bei der Erdenklang-Premiere auf der Bühne beteiligt gewesen; sie loteten in ihren weiteren Projekten die neuen technischen Möglichkeiten jeweils sehr unterschiedlich aus.

Anfang 1984 wurde Mike Oldfield wegen des weiter anhaltenden Erfolges der Erdenklang-LP auf Bognermayr und Zuschrader aufmerksam und engagierte sie für die Tournee zu seiner LP Discovery. Bognermayr beteiligte sich mehrere Monate an der Klangprogrammierung, während Zuschrader auch als Keyboarder an den beiden Fairlight CMI auf der Tour mitspielte.

Im Jahre 1988 gründeten Bognermayr und Zuschrader das Blue Chip Orchestra. Die Debütaufnahme Blue Chip Orchestra bekam international starke Aufmerksamkeit. Es folgten u. a. die Werke Donau so blau in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Josef Resl und White River – Red Spirit (akustische Musik amerikanischer Ureinwohner, kombiniert mit gesampelten Naturklängen und elektronischer Musik). Während dieser Projekte entwickelten sie gänzlich neue Instrumente, zum Beispiel „Ultraschallharfe“ und „Donautuba“. Die 1989 gegründete Blue Chip Academy befasst sich mit Computermusik und deren Spieltechnik sowie neuen Methoden der Digitalpädagogik.

In den Jahren 1987, 1988 sowie 1989 gab Bognermayr das offizielle Statement der Jury zum Prix Ars Electronica jeweils in der Kategorie Computermusik ab.

Am 17. März 1999 nahm sich Hubert Bognermayr in seiner Heimatstadt das Leben (wikipedia)

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Harald Zuschrader (* 5. März 1944 in Linz) ist ein österreichischer Komponist und Musiker.

Der am 5. März 1944 in Linz in Oberösterreich geborene Harald Zuschrader absolvierte am Bruckner-Konservatorium eine Gitarrenausbildung. Zusätzlich studierte er Pädagogik. Zuschrader war zunächst als Mitbegründer der Band an zwei Eela Craig-Alben Ende der 1970er Jahre beteiligt. Hier hat Zuschrader bereits mit Hubert Bognermayr (1948–1999) zusammengearbeitet. Gemeinsam beteiligten sich dann beide an Control Company, welche 1980 das Album Four Years Before 1984 über Polydor (Österreich)/Telefunken (Deutschland) veröffentlichten. An Control Company waren auch noch Joe Drobar und Klaus Pruenster beteiligt. Seit 1979 beschäftigten sich Bognermayr und Zuschrader mit Forschungsarbeiten am ersten digitalen Synthesizer mit Sampling-Technik, dem Fairlight CMI (Computer Musical Instrument), eine australische Erfindung. Der Synthesizer wurde von dem englischen Musiker Peter Gabriel bei seinem dritten Album Melt eingesetzt, welches 1980 erschienen ist. Bognermayr und Zuschrader realisierten mit dem 1982 erschienenem Album Erdenklang die erste ausschließlich mit dem Fairlight CMI realisierte Musik. Das Duo Hubert Bognermayr & Harald Zuschrader veröffentlichte bis 1983 unter diesem Namen insgesamt vier eigene Alben. Für den österreichischen Komponisten und Gitarristen Klaus Pruenster komponierte Zuschrader die 1982 erschienene Schallplatte Zweisamkeit (Ist die schön’re Zeit).

Harald Zuschrader01Zuschrader spielte mit den Elektronik-Musikern Hubert Bognermayr, Johannes Schmoelling, Kristian Schultze und Matthias Thurow am 25. April 1987 beim von Ulrich Rützel initiierten und vom WDR Köln veranstalteten Konzert „Million Bits In Concert“ in Köln mit.

Mit Bognermayr gründete Zuschrader im Jahr 1988 das digitalphilharmonische Musikprojekt Blue Chip Orchestra. Gemeinsam haben sie als solches vier Alben bis 1998 veröffentlicht. Im Jahr 1999 ist Bognermayr verstorben.

Im Jahr 1991 veröffentlichten Zuschrader und Peter Rauhofer als B-Style die Maxi-CD The Streets Of San Francisco über GIG Records. Mit Wolfgang Kosmata produzierte Zuschrader die Alben Altum Silentium, The Secret of Life und Wellness Symphony Vol.1, welche 2008 bis 2009 beim Label von Kosmata veröffentlicht worden sind.

Im Jahr 1997 gründete Zuschrader die Rock ’n’ Roll-Band Matchbox. Die Band hatte diverse Auftritte in Österreich und Deutschland, zuletzt 2005. Matchbox war Vorgruppe des englischen Konzert-Projektes „The Heros of Rock“ mit Joe Cocker, Manfred Man und Procul Harum. Matchbox war bis 2007 aktiv. Von 2006 bis 2010 war Zuschrader in der Show „Usea Motabula – Symphonie des Regenbogens“ des Künstlers Hans-Peter Gratz als Arrangeur aktiv. Zuschrader ist als Leadgitarrist und Backgroundsänger bei größeren Veranstaltungen der Country-Band John TC & The Troubleshooters aus Linz aktiv. Die Band trat zum ersten Mal im August 2009 in Österreich auf. Weiter war Zuschrader in der Band Fenders Revival aktiv. (inklupedia.de)

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Und hier ihr drittes und vorletztes Album. Es löste damals doch ziemlich viel Begeisterung aus:

So schrieb z.B. „Der Spiegel“ mit der ihm eigenen Süffisanz folgende Zeilen:

Krach aus der Stahlküche und Vogelgezwitscher, Wasserglucksen und Martinshörner haben zwei Österreicher mittels Computer zum »Erdenklang« gemixt. Ist ihre LP ein kluger Ulk oder eine revolutionäre Pioniertat?
07.03.1982, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 10/1982

Rund ums Anwesen ein adretter Holzzaun, überm Gartentor Heckenrosen im Halbrund, bunte Fensterläden am Haus, am Giebel ein Geweih – eigentlich könnte diese grüne Idylle, gleich am Wald oberhalb von Linz an der Donau, nur eine österreichische Sommerfrische sein mit fl. k. u. w. Wasser.

Auch der gemütlich gerundete Hausherr, der Bognermayr Hubert, 33, würde zu einer Frühstückspension passen wie Kaisersemmeln zum großen Braunen. Mit seinem pfiffigen Kullerblick durch die runden Brillengläser, mit Pfeife verkörpert der Sproß einer alten Förstersippe, wenn er vor einer knusprig gebratenen Stelze und einem wohltemperierten Obstler sitzt, die alpenländische Spielart des Lebenskünstlers.

»0136 – (G:Bf:Df:F+), 7G:Bf:Df:F+, 7, 6G:Bf:Df:F+, 12G:Bf:Df:F+, 12, 6G:Bf:Df:B« – einen solchen Code, Teil eines Computer-Programms und dieses wiederum nur Bruchstück aus einer von über 600 verschlüsselten Kompositionsordern, würde man mit Bognermayr so schnell nicht in Verbindung bringen. Ein Hubertusmantel mit Hirschhornknöpfen scheint ihm angemessener als Bits, Chips und integrierte Schaltkreise.

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Doch zumindest die deutschen Feuilletons haben den Eigenbrötler aus dem oberösterreichischen Forst zum Guru der elektronischen Musik ausgerufen.

»Ein paar Jahrzehnte musikalischer Entwicklung stehen da offen«, orakelt die »Welt« nach Anhörung der Linzer Retorte. »Ein neues Kapitel in der Musikgeschichte« sah, wieder einmal, die »Rheinische Post« aufgeschlagen.

Das »Hamburger Abendblatt« vernahm nach Bognermayrs Schalten und Wüten »die Welt des Wohlklangs auf den Kopf gestellt«, die »Zeit« fiel zum Ruhm der elektronischen Ton-Melange sogar in das Pathos der Genesis zurück: »Am Anfang war das Wasser«, predigte das Wochenblatt gleich sechsmal in 237 Zeilen, »der Geist Gottes schwebte darüber« – und nun wohl auch der von Hubert Bognermayr.

Inzwischen hat sich der alpenländische Schöpfungsakt, von dem die Zeitungen so geheimnisvoll wichtig taten, auf einer handelsüblichen Langspielplatte niedergeschlagen: »Erdenklang«, so der Titel, beinhaltet eine »computerakustische Klangsinfonie« von 35 Minuten und 11 Sekunden Länge, die, der »Zeit« gemäß, am Anfang, aber auch am Ende gluckst und dazwischen eine Menge süffiges Tonmaterial in den Rillen hat.

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Das fünffach, in poetisch verbrämte Sätze wie »Erdenleicht«, »Erdentief« oder »Erdung« unterteilte und -titelte Stück erweist sich als kesse Mixtur aus Naturlauten und Industrielärm. Tatsächlich haben der studierte Magister Bognermayr und sein Ko-Komponist, der Linzer Gitarrenlehrer Harald Zuschrader, 38, bloß alltägliche Geräusche der Umwelt mit elektrotechnischer Raffinesse in reinen Wohlklang verfälscht.

Kaum ist das Wasser (eines dutzendfach aufgenommenen und echohaft verdünnten Einzel-Tropfens) aus den ersten Stereo-Rillen abgelaufen, da werden Stahlsaiten angeschlagen und Dampfhämmer eingeschaltet. Aus dem Linzer Hüttenwerk »VÖEST-Alpine«, in großstädtischem Verkehrsgewühl heulen Martinshörner auf, im Donautal surren die Transformatoren eines Umspannwerkes.

Gelegentlich trällern Vögel, und zwischen das Geklapper von Metallstäben und Bambusrohren mischen sich sogar die Bässe der beiden Macher, sauber eingestimmt auf »a«.

Doch naturrein ist diese Collage nicht, jeder O-Ton vielmehr elektronisch gepanscht. »Niemand«, da übertreibt nicht einmal der Hamburger »Erdenklang«-Manager Ulrich Rützel, 37, »wird auf dieser Platte einen Ton finden, der nicht natürlichen Ursprungs ist, und keiner wird einen Ton finden, der nicht unbedingt so in der Natur nachweisbar wäre.«

Ungewöhnlich am »Erdenklang« ist eigentlich auch weniger der Sound, in dem Bio-Töne und akustischer Smog zu schönster Harmonie eingeschmolzen sind, mehr dessen technische Herstellung.

Fairlight CMI

Als Bognermayr, der 1970 die Gruppe »Eela Craig« gegründet und mit deren symphonischer Rock-Elektronik einige Jahre auffallend Erfolg gehabt hatte, S.206 1979 bei der ersten Linzer »Ars Electronica« erstmals den »Fairlight CMI« (für »Computer Music Instrument“) in Aktion hörte, glaubte er »einen langgehegten Traum aller Elektroniker erfüllt«.

Denn anders als die meisten zum Tonsatz verwendeten Geräte kann der von dem aus Deutschland stammenden Australier Peter Vogel gebastelte Apparat nicht nur natürliche Töne simulieren, sondern auch einfangen, speichern und, entsprechend programmiert, auf jede nur denkbare Weise variieren: in Tempo und Farbe, Tonhöhe und Dynamik, auch als Stakkato oder Legato. »Mit einem einzigen Geigenton«, entzückte sich Bognermayr, »kann ich eine ganze Symphonie komponieren.«

Sofort sah Naturfreund Bognermayr die ökologische Chance, »die Laute der Natur, die heute im Lärmpegel der Zivilisation untergehen, erhalten« und »unsere Ohren wieder an die Vielfalt der Natur heranführen« zu können. Er kaufte Vogels Apparat für 80 000 Mark und krempelte das Parterre seines Försterhauses zum Laboratorium um.

Auf den Einöd-Tüftler wurde bald sogar Herbert von Karajan aufmerksam. Als der 1980 für den ersten und dritten Akt seiner Salzburger »Parsifal«-Aufführung ein volltönendes Geläut suchte, bat er Bognermayr mit dem kofferkleinen »Fairlight CMI« ins Festspielhaus: Statt bislang von neun Musikern mit Klavieren, Glocken und Tamtam wurde der heilige Bimbam nun aus der Retorte eingespielt – wuchtiger und präziser als je zuvor.

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Ganz von abendländischen Traditionen wollte Bruckner-Verehrer Bognermayr auch beim »Erdenklang« nicht lassen. So hat er die Geräuschkulisse aus dem nahen Donautal manchmal geradezu polyphon arrangiert; in der Linzer Stahlschmiede rumst es nach entsprechender Order an den »Fairlight« rhythmisch so exakt wie ein Generalbaß von Vivaldi; einmal stimmen die gemixten Klänge sogar einen richtigen Choral an.

So ist bei diesem abgekarteten Spiel des Computers alles drin: Aus dem Hüttenwerk Maschinen-Rock, swinging Barock vom Dampfhammer, Vogelgezwitscher wie aus Beethovens »Pastorale« und viel reines Schmuse-Dur, wie es der französische Synthesizer-Softy Jean-Michel Jarre („Equinoxe“) nicht weicher verbreiten könnte – alles, nur nicht der musikgeschichtliche Sprengsatz, den so mancher Feuilletonist dem »Erdenklang« glaubte andichten zu müssen.

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Bognermayr selbst interpretierte seine Zukunftsmusik denn auch mit erfrischend keckem Unterton: »Haben Sie schon mal eine Bettkante gehört, die Ravels “Bolero“ rhythmischer knarrt, als jeder Schlagzeuger trommelt?«

Wenn das sein »Fairlight« kann, dann, bitte, soll er rasch wieder von sich hören lassen: In der intelligenten Verarschung von E-Musik tut sich ein weites Pop-Feld auf. (Der Spiegel 10/1982)

Nun ja … diese elekronischen Avancen erreichen mich so ganz … aber die Jungs hatten schon auch ihre Freude am Plätschern des Wassers.

Am Dienstag, dern28. September 1982 gab es dann im Brucknerhaus, Linz/Österreich eine spezielle Uraufführung. Das Album „Erdenklang“ wurde als Computerakustisches Tanztheater präsentiert (die entsprechende Presseiformation liegt dieser Präsentation bei).

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Besetzung:
Hubert Bognermayr (Fairlight CMI computer)
Harald Zuschrader (Fairlight CMI computer)

Hubert Bognermayr & Harald Zuschrader02

Titel:
01. Erdenleicht 6.12
02. Erdentief 11.18
03. Erdung 6:.25
04. Eden 6.43
05. Irden 4.25

Musik: Hubert Bognermayr & Harald Zuschrader

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Pressetext

Ulrich Noethen – Die Kinder-Uni – Warum träumen wir – Warum hören wir (Ulrich janßen & Ulla Steuernagel) (2004)

FrontCover1Also, diese Idee finde ich einfach nur Klasse !

Und so ging´s los:

Am 18. Mai 2002 ruft das Schwäbische Tagblatt mit folgendem Artikel den Start der Kinder-Uni aus:
Kinder, stürmt den Hörsaal!
Schwäbisches Tagblatt und Universität Tübingen starten gemeinsam die Kinder-Uni.

TÜBINGEN. Echte Professoren, die Vorlesungen nur für Kinder halten: Gibt’s das? Ja! Anfang Juni startet das SCHWÄBISCHE TAGBLATT gemeinsam mit der Tübinger Universität ein bundesweit einmaliges Projekt: die Kinder-Uni. Bis Ende Juli werden Professoren der Tübinger Uni jede Woche eine Vorlesung exklusiv für Kinder halten.

Dass Professoren entgegen verbreiteten Vorurteilen durchaus in der Lage sind, Kindern etwas zu erklären, hat schon die „Süddeutsche Zeitung“ bewiesen. In einer Serie für das „SZ-Magazin“ beschäftigten sich Nobelpreisträger mit Fragen wie „Warum ist 1+1=2“ oder „Warum ist der Himmel blau?“ Das SCHWÄBISCHE TAGBLATT geht gemeinsam mit der Tübinger Universität einen Schritt weiter. Von Juni an werden Tübinger Professoren im großen Hörsaal der Anatomie direkt vor Kindern lehren. So etwas gab es nach unseren Recherchen in Deutschland noch nie. Zugesagt haben bis jetzt außer Uni-Rektor Eberhard Schaich (Wirtschaftswissenschaft) unter anderem die Professoren Hermann Bausinger (Kulturwissenschaft), Gregor Markl (Mineralogie), Hans-Ulrich Grunder (Erziehungswissenschaft) und Lutz Richter-Bernburg (Islamwissenschaft). Sie werden so schwierigen Warum-Fragen nachgehen wie „Warum beten Moslems auf einem Teppich?“ oder „Warum muss man über Witze lachen?“

Kinder Uni Tübingen01

Für das TAGBLATT und die Universität ist die Kinder-Uni ein Experiment, das sich, wenn es gut geht, auch verlängern lässt. Unirektor Eberhard Schaich jedenfalls ist „gerne und begeistert dabei“ und will bei den Vorlesungen „erkunden, was die jungen Menschen wirklich interessiert“. Schaich: „Uns an der Universität können dabei durchaus die Augen geöffnet werden, wenn wir dieses Interesse mit unseren eigenen Erwartungen an die Kinder vergleichen. Ich halte es für sehr wichtig, dass auch die Schulkinder die Universität als offene Institution erleben können, mit der man reden kann.“ Schaich hofft, dass bei den Kindern der Eindruck entsteht, „dass die Leute, die an der Universität in welcher Funktion auch immer arbeiten, durchaus vernünftige Menschen sind“.

Ausgeheckt haben die Idee Ulla Steuernagel & Ulrich Janßen:

Ulrich Janßen und Ulla Steuernagel sind Redakteure des ‚Schwäbischen Tagblatts‘ in Tübingen. Beide initiierten gemeinsam mit der Eberhard Karls Universität Tübingen die Kinder-Uni, die im Juni 2002 mit acht Vorlesungen startete und im April 2003 fortgesetzt wurde. Das Buch, das die beiden Journalisten zur ersten Vortragsreihe verfassten, war ein großer Erfolg, stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste und ist nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2004. Inzwischen ist bereits das Buch zum ‚dritten Semester‘ erschienen.
Weitere gemeinsame Projekte der beiden Journalisten waren der erste interaktive Zeitungskrimi Deutschlands (1995) und die ‚Gutenachtgeschichte‘ (seit 1996), eine sommerliche Vorlesungsrunde, bei der Tagblatt-Leser ihre Lieblingsgeschichten auf einem öffentlichen Platz vortragen. Beide Ideen stießen – wie die Kinder-Uni – bundesweit auf Interesse und haben Nachahmer in vielen Städten gefunden. 

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Ulrich Janßen, geboren 1959, studierte Philosophie, Geschichte und Rhetorik in Tübingen. Seit 1989 ist er Redakteur beim Schwäbischen Tagblatt in Tübingen. Gemeinsam mit Ulla Steuernagel gründete er im Jahr 2002 die erste deutsche Kinder-Uni. Ihre drei vielfach ausgezeichneten Kinder-Uni-Bücher wurden Bestseller und in 15 Sprachen übersetzt. Ulrich Janßen ist Mitglied des Kuratoriums der Max Planck-Institute für Entwicklungsbiologie und Biologische Kybernetik.

Ulla Steuernagel, geboren 1954, ist Redakteurin beim Schwäbischen Tagblatt. Sie studierte Empirische Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte und Pädagogik. Sie lebt in Tübingen und hat zwei Söhne. Gemeinsam mit Ulrich Janßen entwickelte sie die Idee der Kinder-Uni, die mittlerweile in Deutschland, Österreich, der Schweiz und vielen weiteren Ländern verbreitet ist.

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Na, und der Sprecher dieses Hörbuches ist natürlich auch sehr bekannt:

Ulrich Noethen, 1959 in München geboren, Absolvent der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart, begann seine Schauspielkarriere 1985 am Freiburger Theater. Nach zwei Jahren im dortigen Ensemble arbeitete er unter anderem am Schauspiel Köln, an der Staatlichen Schauspielbühne Berlin und am Staatstheater Stuttgart. Anfang der 90er Jahre wechselte er zum Fernsehen und spielte u. a. in „Tatort“ und der Serie „Die Partner“. Der große Durchbruch gelang ihm 1997 mit Joseph Vilsmaiers „Comedian Harmonists“. Seitdem war er in Kinofilmen wie „Gripsholm“ (2000), „Der Untergang“ (2004), „Ein fliehendes Pferd“ (2007) oder „Henri IV“ (2009) sowie in unzähligen TV-Produktionen zu sehen. Er wurde mit dem Goldenen Löwen, der Goldenen Kamera, dem Bayerischen Filmpreis, dem Bundesfilmpreis und dem Preis der deutschen Filmkritik ausgezeichnet. Für den Hörverlag las Ulrich Noethen u.a. „Istanbul“ von Orhan Pamuk sowie „Demian“ und „Narziß und Goldmund“ von Hermann Hesse. Außerdem wirkte er in zahlreichen Hörspielen mit, z. B. in „David Copperfield“ von Charles Dickens, „Tom Sawyer & Huckleberry Finn“ von Mark Twain, „Doktor Faustus“ von Thomas Mann und Wolfgang Koeppens Trilogie „Tauben im Gras“ / „Das Treibhaus“ / „Der Tod in Rom“. (Pressetext)

Ulrich Noethen

2002 hatte Michael Seifert, damaliger Pressesprecher der Eberhard Karls Universität Tübingen, gemeinsam mit Redakteuren des „Schwäbisches Tagblatts“ die Kinder-Uni aus der Taufe gehoben. Zeitgleich mit der Universität Innsbruck schufen sie im deutschsprachigen Raum ein völlig neues Veranstaltungsformat an Universitäten. Hochschulen sahen damit eine Chance, Berührungsängste abzubauen, Kinder mit wissenschaftlichen Fragestellungen vertraut zu machen und sie für Forschung zu begeistern. Heute gibt es mehr als 200 solcher Angebote in Europa und darüber hinaus. Man schätzt, dass inzwischen weit mehr als eine Million Kinder von Kinder-Uni-Aktivitäten erreicht wurden.

2005 erhielt die Kinder-Uni Tübingen den wichtigsten Preis für Wissenschaftskommunikation der Europäischen Kommission, den „Descartes Prize for Science Communication“, und auch eine neue europäische Dimension: Von 2008 bis 2010 förderte die EU das Projekt EUCU.NET (European Children’s Universities Network), mit dem ein Netzwerk aller Kinder-Universitäten in Europa und darüber hinaus geschaffen wurde. (uni-tuebingen.de)

Kinder Uni Tübingen02

Im Jahr 2009 werden Ulla Steuernagel und Ulrich Janßen, die Begründer der Tübinger Kinder-Uni, mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und das ist natürlich mehr als verdient, denn ihre Idee … wie oben bereits erwähnt, ist einfach nur Klasse, denn Wissensvermittlung ist ganz sicher ein zentraler Schlüssel, um sich in unserer Welt zurecht zu finden.

Interessant … für große und kleine Kinder !

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Besetzung:
Ulrich Noethen (Sprecher)

Regie: Wolfgang Binder & Dorothee Meyer-Kahrweg

Musik: Wolfgang Binder

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Titel:

01. Ansage 0.13

Warum träumen wir:
01. Einleitung: Warum träumen wir 3.34
02. Wovon träumt wohl das Krokodil 1.48
03. Wie hiess der Star antiker Nächte 3.03
04. Wer war der erste Traumdoktor 4.14
05. Kann ein Analytiker auch zu viel wissen 4.10
06. Was soll bloss diese Angst vor der Blamage 6.14
07. Steckt das geliebte Häschen im Tigerkostüm 6.18
08. Wie gut träumt man im Labor 2.34
09. Ist der Traum eine Art Putzfrau 2.30
10. Kann ich durchs Schlafen klug werden 3.00
11. Träumen Mädchen anders als Jungen 2.39

Warum können wir hören:
12. Einleitung: Warum können wir hören 4.30
13. Warum ein Laut gar nicht laut ist 6.35
14. Der Nürburgring der Schallwellen ist aus Eisen 3.43
15. War der Urknall überhaupt ein Knall 3.23
16. Warum müssen Menschen nicht mit den Ohren wackeln können 3.52
17. Wozu brauchen wir eine Membrane im Ohr 2.09
18. Der Weg des ‚Grrr‘ 5.48
19. Warum aus Zahl nicht Saal wird 4.16

CD1

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Ulla Steuernagel und Ulrich Janßen

Und hier eine feine Laudation auf Ulla Steuernagel (natürlich von ihrem beruflichen Partner Ulrich Janßen verfasst):

Nach 32 Jahren verabschiedet sich Ulla Steuernagel aus der TAGBLATT-Redaktion. Im Sonntagsgottesdienst in Opladen lernte sie, wie nützlich die Langeweile sein kann. 

Ulla Steuernagel geht? Das geht ja gar nicht! Diese Frau ist doch nie im Leben 65 Jahre alt! Das muss ein Irrtum sein. Ein Zahlendreher im Geburtenregister von Opladen. Ulla Steuernagel im Ruhestand? Unmöglich.

Beweise? Erstens: Vor ein paar Wochen erst hat ein junger Kollege sie „Zeilenmaschine“ genannt. Ein bisschen rabiat war das, aber es schwang auch Ehrfurcht mit. Richtig daran ist, dass sie in letzter Zeit geradezu furchteinflößend fleißig war. Naja, könnte man jetzt sagen: Fleißig sein kann jede(r), auch im Alter.

Doch ihre Artikel sind, zweitens, auch noch gut. Ulla Steuernagel (ich weiß das, weil ich ihr gegenüber sitze) kann aus dem Fenster schauen, ein bisschen am Telefon plaudern, surfen oder in einer alten Zeitschrift blättern, und hat im Nu ein neues Thema. Ein Thema, das sie, drittens, meistens unfassbar gut rüberbringt. Sie kann einfach genial schreiben. Schiefe Vergleiche, öde Floskeln, Journalistenpathos oder billige Modeworte bekommt sie gar nicht in den Computer getippt. Irgendeine Instanz in ihrem Kopf verhindert das so zuverlässig, wie das Tageslicht Vampire vom Blutsaugen abhält.

Ruhestand? Nein, wirklich nicht.

Sie hat ja auch noch genug zu tun. Wie es sich gehört in einer Zeitungsredaktion betreut Ulla Steuernagel bei uns ein paar Ressorts. Zuständig ist sie für die Kinos und den Einzelhandel, die Medizin und die Uni, und für die Rechte der Frauen kämpft sie auch. Zeitweise war sie sogar für den (leider eingestellten) Rundfunksender Uhland 2 verantwortlich, sie kümmerte sich um die Jugendseite und berichtete ein paar Jahre aus der Gemeinde Kusterdingen. Man darf also mit allem Recht der Welt sagen, dass sie sich um das sogenannte journalistische „Schwarzbrot“ nie gedrückt hat. Wenn man jemanden suchte, der einen lästigen Termin übernahm: Ulla schaffte es fast nie, nein zu sagen.

Ihr Lieblingsressort war aber eindeutig das Ressort für alles und nichts. Es ist ein sehr spezielles Ressort, hier trudeln keine Pressemitteilungen ein, man geht nicht auf Pressekonferenzen. In diesem Ressort schaut man sich um.

„ust“ schaut sich gern um, sie ist immer auf der Suche nach etwas Neuem und kann in diesem Punkt sehr wählerisch sein. Wenn man ihr sagt: Hast du da schon von gehört, das ist doch extrem spannend, passiert es oft, dass sie nur „Pfffff“ macht. Hat sie doch längst von gehört, findet sie langweilig. Andererseits kann es sein, dass sie, wenn andere etwas richtig langweilig finden, neugierig wird und den Stift herausholt.

Ulla Steuernagel01

Eins ist klar: Sie lässt sich nicht gern ausrechnen. Jahrelang habe ich versucht, mit ihr Moderationen für die Gutenachtgeschichte des SCHWÄBISCHEN TAGBLATTS zu planen, ich hatte mir richtig gute Gags überlegt, fantastische Übergänge und brillante Einführungen. Hinterhältig nickte sie dann allem zu, um es später vergnügt umzuwerfen. Sie kann so gemein sein.

Dass sie Leute mag, die eigenwillig sind, ein bisschen was riskieren und auffallen, ist kein Wunder. Der schnittfeste Zauberkünstler, der einarmig tätowierte Frisör, der Kinderarzt mit den drahtigen Tieren, der egomanische Koch, der charmante Hochstapler, der Professor mit dem Huhn im Wohnzimmer. Mit solchen Leuten versteht sie sich bestens. Sie geht übrigens auch gern in den Zirkus.

Rätselhafterweise mag sie auch das gewöhnliche, stinknormale Alltagsleben. Wie passt das zusammen? Ganz einfach: Für sie ist das normale Leben wie eine graue Kiste mit vielen funkelnden Schätzen darin. Sie findet sie alle: Die Glibberaugen im 99-Pfennig-Laden („wozu erhalten Kinder eigentlich Taschengeld?“), das „Burda-Schnittmuster“ in der Paul-Horn-Arena, das „Skalpell für Heimchirurgen“ auf dem Georgimarkt und die neuesten Trends in der Trauerfloristik („zurück zu Mutter Graberde“).

Woher kommt dieser Blick für den Zauber des Alltags? Vielleicht hat es mit ihrem Studium zu tun. Wer Kunstgeschichte studiert, sollte sich auskennen mit dem Schönen und Hässlichen. Und wer dazu noch Empirische Kulturwissenschaft studiert, lernt, wie man das Schöne und Hässliche im Alltag findet.

Ein bisschen könnte es aber auch mit ihrer Kindheit zu tun haben, die, vorsichtig formuliert, wechselhaft war. Zunächst sehr behütet und sorgenfrei, und dann, von einem Tag auf den anderen, fast schon prekär.

Ulla Steuernagel wuchs in Opladen auf, im Rheinland, wo man („was soll das schlechte Leben nützen?“) die Gegenwart zu schätzen weiß, wo die Leute fröhlich, gesellig und katholisch sind. Es waren die Sonntagsgottesdienste, sagte sie einmal, wo sie gelernt habe, sich Attraktionen zu suchen, um der Langeweile zu entrinnen. Wenn der Pfarrer seine Predigt hielt, studierte die kleine Ulla die Pelzmäntel der großbürgerlichen Damen.

Was Ulla nicht mag: Die große Politik, die Sphäre der Macht, die viele Journalisten anzieht. Da ist ihr viel zu viel Wichtigtuerei und Funktionärsgehabe im Spiel, das ist nicht ihr Ding. Ist sie also unpolitisch? Jemand, die nur spielen will, die zwar in der Fasnets-Ausgabe die schönsten Artikel schreibt, kundig über Forsythien lästert und über junge Frauen mit „Mama“-Komplex? Aber nicht wirklich ernst zu nehmen ist?

Von wegen! „ust“ ist sehr ernst zu nehmen, auch politisch, nur äußert sie das nicht in Leitartikeln. Politik ist für sie, wenn sie die zu Wort kommen lässt, die nicht zu Wort kommen, die Schwächeren. Da ist sie kein bisschen ironisch, sondern will es ganz genau wissen, im O-Ton. Sie recherchierte und schrieb über Mieter, die von einem Wohnungskonzern drangsaliert werden, über den kleinen Händler in der Südstadt, dem der Laden gekündigt wurde, und über die krummen Biografien der Berber aus der Vesperkirche.

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Es war kein Zufall, dass sie in der Redaktion so viele Nachrufe schrieb wie niemand sonst. Sie versteht etwas von Menschen, findet Zugang, kann sich hineindenken und hat den Mut, bei Freunden und Verwandten anzurufen. Der 17-jährige Junge aus Kusterdingen, der auf den Gleisen einschlief und überrollt wurde. Dennis, der mit 19 Jahren im Auto verunglückte und in einem Sarg in Flaschenform beerdigt wurde. Sie fand die richtigen Worte in solchen Fällen, eindringlich, aber nicht pathetisch, mit Abstand, aber auch mit Mitgefühl. Nicht selten hatte sie, selbst Mutter von zwei Söhnen, abends Tränen in den Augen, wenn der Nachruf geschrieben war.

Dies ist kein Nachruf, zum Glück. Aber es ist klar, dass Ulla der Redaktion sehr fehlen wird. Denn es ist leider wahr, sie geht eben doch, die 65 stimmen. Ich werde sie, wie die ganze Redaktion, sehr vermissen. Wir waren 30 Jahre lang ein gutes Team. Der Sommerkrimi, die Gutenachtgeschichte, die Kinder-Uni und einiges mehr hat uns verbunden, wir hatten viel Spaß. Die Kinder-Uni brachte Ulla Steuernagel sogar ein Bundesverdienstkreuz ein, sie wurde Bestsellerautorin und ein bisschen berühmt. Selbst in China las man die Kinder-Uni-Bücher.

Wird man in Tübingen noch Artikel von ihr lesen? Oder wird sie künftig Aquarelle malen? Alte Fotoalben durchblättern? Ahnenforschung betreiben? Ein E-Bike kaufen? Für Überraschungen war sie immer gut. Wir sind gespannt. (Ulrich Janßen, Schwäbisches Tagblatt, 05.09.2020)

Wolle Kriwanek & Schulz Bros. – Let’s Fetz (1981)

FrontCover1Und wieder einmal so ein Musiker, über den ich eigentlich schon vor 100 Jahren hätte berichten müssen. Wolle Kriwanek das schwäbische Ausnahmetalent …

Wolle Kriwanek, eigentlich Wolfgang Kriwanek (* 29. Dezember 1949 in Stuttgart-Stammheim; † 20. April 2003 in Backnang) war ein schwäbischer Musiker, der als Sänger von Blues und Rockmusik mit schwäbischen Texten bekannt wurde.

Kriwanek wurde in Stuttgart-Stammheim geboren und wuchs dort auch auf. In seine Jugendzeit datieren seine ersten musikalischen Erfahrungen. Als sein Erweckungserlebnis gilt ein Mitte der 1960er Jahre im Fernsehen übertragenes Konzert von Mahalia Jackson, das er später im Lied Sing Hallelujah beschrieb. Kriwanek verband als einer der ersten Musiker Deutschlands Blues und Rockmusik mit Dialekt im Allgemeinen und dem Schwäbischen im Besonderen. Er nahm bereits in den 1960er Jahren an Nachwuchswettbewerben teil, hatte jedoch erst im Lauf der 1970er Jahre, als deutschsprachige Rockmusik sich zu etablieren begann, musikalischen Erfolg.

1969 machte er sein Abitur am Wirtschaftsgymnasium in Stuttgart und studierte anschließend bis 1972 Englisch und Geographie an der Pädagogischen Hochschule in

Elternhaus

Kriwaneks Elternhaus in Stuttgart-Stammheim

Ludwigsburg. Von 1972 bis 1974 unterrichtete er an der Sonderschule für Lernbehinderte in Ditzingen, um dann von 1974 bis 1976 an der damaligen Pädagogischen Hochschule Reutlingen (heute Fachbereich Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg) Lernbehinderten- und Verhaltensgestörtenpädagogik zu studieren. Das 2. Staatsexamen legte er im Zeitraum von 1976 bis 1980 an der „Metter“-Schule (Schule für Lernbehinderte) in Bietigheim-Bissingen ab. Danach schlossen sich wegen des erfolgreichen Verlaufs seiner musikalischen Karriere einige Jahre als Berufsmusiker an.

Mitte der 1980er kehrte Wolle Kriwanek in seinen ursprünglichen Beruf als Lehrer zurück, mit neuem Wohnsitz in Backnang. Seit 1986 arbeitete er an der Bodenwaldschule der Paulinenpflege Winnenden, einer Sonderschule für Erziehungshilfe in Winnenden.

Er war lange Jahre Juror beim Nachwuchsfestival im Rahmen des Straßenfests in Backnang und schrieb in den 1990er Jahren in der überregionalen Zeitung „Sonntag Aktuell“ eine Kolumne über Nachwuchsmusiker. 1996 wurde er der erste Vorsitzende der Rockstiftung Baden-Württemberg mit Sitz in Baden-Baden. Aus dieser Initiative entstand 2003 die Popakademie Baden-Württemberg in Mannheim, Deutschlands erste Hochschule, an der Künstler und Musikmanager ein fundiertes Studium belegen können.

Er starb unerwartet im April 2003 am Bruch einer Schlagader, der auf eine angeborene Herz-Gefäßschwäche zurückging, die zeit seines Lebens unentdeckt geblieben war.

Kriwanek war verheiratet und hat einen Sohn.

Seine ersten Versuche Ende der 1960er Jahre, mit schwäbischen Texten den Blues zu WolleKriwanek02singen, wurden beim Stuttgarter Radiosender SDR noch weitgehend ignoriert. Kriwaneks erster Erfolg war sein Sieg mit dem Lied Sunny beim Schlagerwettbewerb auf dem Backnanger Straßenfest im Jahr 1971. Im Jahre 1975 ebnete sowohl sein Sieg beim SDR-Wettbewerb „Bester Liedermacher von Baden-Württemberg“ als auch der Erfolg der deutschsprachigen Rockmusik von Udo Lindenberg dem Schwaben den Weg in die Massenmedien, etwa zu einem Auftritt bei der ZDF-Drehscheibe, wo er seinen Titel Lila Tilla, ein von einem Ragtime-Klavier unterlegtes Spottlied über die farblichen Vorlieben einer Dame, allerdings Hochdeutsch sang.

In mehreren Stücken verband Kriwanek schwäbische Texte mit englischen Ausdrücken auf doppeldeutige Weise, so z. B. auf der 1976 erschienen Single Bad’Wanna Blues, in dem schlicht das traditionelle Wannenbad am Samstagabend vor der ARD-Sportschau beschrieben wird („Dann feel I me so wohl, vom Kopf bis runter zur soul“) oder auch in dem späteren Titel Reggae Di uff?.

Kriwaneks Karriere war seit 1975 geprägt von der Zusammenarbeit mit Paul Vincent, der fast alle Lieder zusammen mit Wolle Kriwanek schrieb und dessen schwäbischen Gesang mit der Slide-Guitar unterstützte. Ende der 1970er bis Anfang der 1980er brachten die beiden mehrere LPs heraus, meist als Wolle Kriwanek & Schulz Bros.. Zu jener Zeit entstand das Lied Stroßaboh, eine musikalische Hetzjagd nach der letzten Straßenbahn der Linie 5, die an diesem Abend jedoch ohne den Sänger abfährt. In einer englischen Version erreichte der Song in der Verkaufshitparade des Vereinigten Königreiches den 10. Platz.

Einen ironischen Kommentar auf den damaligen Weltraum-Boom, der u.a. in den Büchern von Erich von Däniken oder in dem Film Unheimliche Begegnung der dritten Art zum Ausdruck kam, sowie das Selbstverständnis der Schwaben enthielt 1977 Kriwaneks Lied UFO, bei dem ein Wanderer von einer Fliegenden Untertasse überrascht wird. Den Versuch, den Besuchern aus dem Weltall auf Hochdeutsch Auskunft zu erteilen, erwidern diese mit der Aufforderung „Mensch, Kerle, schwätz Schwäbisch, wie mir au!“. Kriwanek verarbeitete auch Motive aus dem Volksgut, darunter die Winterlieder Draußa em Wald, Es schneielet und En meiner Stuaba, von denen er schwäbische Bluesrock-Versionen einspielte, oder das von einem Kinder-Abzählreim inspirierte Enne Denne Dubbe Denne.

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Kriwaneks Texte behandelten zumeist die Lebenswelt einfacher Menschen und beschrieben dabei ironisch die Träume von Kleinbürgern, so etwa dem Büroangestellten, der im Lied Babylon von einem Leben als Pharao samt grenzenlosem Reichtum und Macht phantasiert, vom Bankangestellten, der sich im Lied Easy Rider beim Geldzählen durch den Traum von einer Harley-Davidson ablenken lässt, oder vom arroganten Fahrer eines Mercedes 500SE, der sich im so genannten „PS-Walzer“ I fahr Daimler letztlich nur als Chauffeur entpuppt. Anfang der 1980er war Wolle Kriwanek häufig bei Südwest 3 zu Gast, u.a. bei einem Auftritt zusammen mit Caterina Valente.

Auch nachdem er Mitte der 1980er Jahre wieder in den Lehrberuf zurückgekehrt war, trat er weiterhin als Musiker auf. Zur Wolle Kriwanek Band zählten damals neben Kriwanek an Gesang und Gitarre und dem langjährigen Mitstreiter Paul Vincent an der Slide-Guitar noch Mick Brehmen († 2010) am Bass, Dieter Stümpfl am Schlagzeug und Uli Eisner am Mischpult.

Für mehrere sportliche Anlässe hat Wolle Kriwanek die Musik beigesteuert, so den Titel Ready, Steady, Go! für die Leichtathletik-Europameisterschaften 1986 in Stuttgart, einen Song für die Silver Arrows von Mercedes in der Formel 1, und den Titel Stuttgart kommt! für den VfB Stuttgart. Sein letztes Werk war ein Lied zur innerdeutschen Bewerbung von Stuttgart für die Olympischen Spiele 2012.

Die Wolle Kriwanek Band trat seit Kriwaneks Tod 2003 weiter unter dem Namen Vincent Rocks auf.

Paul Vincent

Paul Vincent

Am 18. Mai 2009 wurde in Stuttgart-Stammheim die Wissmannstraße, in der Wolle Kriwanek aufgewachsen ist, ihm zu Ehren umbenannt in Wolle-Kriwanek-Straße. (Quelle: wikipedia)

Mit „Let´s Fetz“ legte der Woll bereits sein viertes Album vor und auch auf diesem Album ist seine Partnerschaft mit dem großartigem Gitarristen Paul Vincent die Basis für ein rundum gelungenes Album. Paul Vincent legte wohl den musikalischen Grundstein, auf dem sich der Wolle textlich austoben konnte … und davon machte er reichlich Gebrauch.

Hinhören (auch wenn´s schwäbisch ist) lohnt sich nun wirklich !

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Die Wolle-Kriwanek-Band bei ihrem letzten gemeinsamen Konzert in der Sulzbacher Discothek Belinda im April 2003 (von links): Mick Brehmen (gestorben 2010) am Bass, Frontmann Wolle Kriwanek mit der Gitarre, Rockgitarrist Paul Vincent und Dieter Stümpfl am Schlagzeug. Uli Eisner war wie immer am Mischpult. Foto: E. Layher

Besetzung:
Mick Brehmen (bass)
Wolle Kriwanek (vocals, guitar)
Dieter Stümpfl (drums)
Paul Vincent (guitar, slide-guitar)

BackCover

Titel:
01. Reggae di uf  4.01
02. Es schneielet (Ein deutsches Volkslied) 3.17
03. Rattenfänger 3.18
04. I fahr Daimler (Der PS-Walzer) 3.47
05. Herbertstr. 3.40
06. Mama, Mama 4.45
07. Total kaputt in Hollywood (Charles Bukowski zum 60.) 4.27
08. Wir singen für Millionen 4.47
09. Jagger und Jones (Oder: Irmgard ist inzwischen auch schon über 30) 4.02

Musik und Text: Paul Vincent + Wolle Kriwanek

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KriwanekStrasse

Unbekannte Interpreten – + Rum & Coca Cola + Besser geht´s mit Coca Cola (50er Jahre)

FrontCover1Dass es Coca Cola bei uns in Deutschland bereits seit 1929 gab, war mir nicht bewusst. Hier mal wieder ein wenig Firmengeschichte:

Die Coca-Cola-Zeitschriftenwerbung der 50er und 60er Jahre dokumentiert nicht nur damalige Entwicklungen im Bereich der deutschen Printwerbung, sondern hat darüber hinaus auch eine geballte Ladung Wirtschaftswunder-Zeitgeist zu bieten.

„Amerikas Coca-Cola-Gewaltige registrieren frohe Umsatzbotschaften aus Germany. Die westdeutschen Coca-Cola-Verkäufer sind erfolgreich ausgezogen, ihr verlorenes Absatzland zurückzuerobern“, vermeldet das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL in seiner Ausgabe vom 13. Juli 1950. Und in der Tat haben die Verkaufzahlen der dunkelbraunen Brause nach kriegsbedingter Unterbrechung und dem Neustart der Produktion bereits innerhalb kurzer Zeit wieder ihr vormaliges Niveau erreicht. Denn entgegen der weit verbreiteten Einschätzung, dass sich die „erfrischende Pause“ hierzulande erst in den Nachkriegsjahren durch Coca-Cola trinkende amerikanische Besatzungssoldaten etabliert habe, nimmt die Erfolgsgeschichte des „unnachahmlichen koffeinhaltigen Erfrischungsgetränkes“ schon gut zwei Jahrzehnte zuvor ihren Lauf. Ausgangspunkt ist die Ruhrgebietsmetropole Essen, in der am 8.April 1929 mit Hilfe einer „halbautomatischen Abfüllmaschine mit nur sechs Füllstellen“ die erste Flasche auf deutschem Boden produziert werden kann. Größere Kapazitäten waren zu Anfang auch gar nicht beabsichtigt, denn „wer konnte wissen, ob dieses neuartige Getränk überhaupt jemals in unserem Land Gefallen finden würde, wo doch bekanntlich trinkfeste Männer von alters her die Limonaden verächtlich über die Schulter ansahen?“ erinnert rückblickend eine spätere Coca-Cola-Jubiläumsschrift an die Zweifel der Anfangszeit. Jedenfalls werden die fertigen Flaschen kistenweise mit Hilfe des aus einigen wenigen Pferdewagen bestehenden „Fuhrparks“ an Wirtschaften, Lebensmittelgeschäfte oder Trinkhallen ausgeliefert und von dort an die durstigen „Kohlenpott“-Bewohner weiterverkauft. Zwar „findet der herb-prickelnde Geschmack beim Probetrunk nicht immer Anklang“, doch schon bald wird auch an anderen Orten zunehmend Interesse an dem neuartigen Getränk bekundet.

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Da Kühlgeräte in deutschen Privathaushalten noch die Ausnahme sind, ist es zudem etwas besonderes, dass Coca-Cola nach Vorgabe des Konzerns „nur eiskalt“ serviert werden darf. Ein Umstand, der bei den Verkäufern der Firma sicherlich auf wenig Gegenliebe gestoßen ist, da diese zur Gewinnung von Neukunden stets eine mit Zinnblech ausgeschlagene, eisgefüllte Kühlbox mitführen mussten, die aufgrund ihres immensen Gewichts als „Seufzertasche“ berühmt berüchtigt war. Nicht zuletzt dank aufwendiger begleitender Werbemaßnahmen mit plakativen, Pin-up-orientierten Motiven entwickelt sich das Geschäft in der Folge überaus gut und nach fünf Jahren sind landesweit verteilt bereits weitere Abfüllbetriebe im niederrheinischen Emmerich sowie in Frankfurt, München, Leipzig und Hamburg hinzugekommen. Diese besitzen den Status selbstständig arbeitender Konzessionäre, die als Grundstoff für ihre Produktion lediglich einen fertig gemischten „Geheimextrakt“ mit der Bezeichnung „7-X-Konzentrat“ vom Coca-Cola-Mutterkonzern aus Atlanta beziehen, der zuvor noch von der Essener Tochtergesellschaft mit diversen vor Ort beschafften Kräuter- und Fruchtauszügen angereichert wurde. Von den Abfüllern wird das Sirup-Konzentrat dann schließlich durch Zugabe von Wasser, Zucker und Kohlensäure zur trinkfertigen Brause aufbereitet. Der zu diesem Zweck verwendete Sirup hat allerdings mit der ursprünglichen, erstmals 1886 in Atlanta vom Drogisten John Pemberton als Mittel gegen Müdigkeit und Kopfschmerzen feilgebotenen Mixtur aus Wein, Kolanüssen und Kokablättern nicht mehr viel gemeinsam. Welche Bestandteile inzwischen im Einzelnen darin enthalten sind, ist natürlich eines der bestgehüteten Geheimnisse überhaupt, von dem immer mal wieder behauptet wird, es wäre geknackt. Wie auch immer – für den Geschmack verantwortlich sind jedenfalls offenbar Zitronen-, Orangen- und Zimtöle sowie Vanille, für die saure Note sorgt Phosphorsäure und für die Süße, zumindest in der klassischen Variante, jede Menge Zucker.

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Doch zurück zur Coca-Cola-Firmenphilosophie und der bewussten Trennung zwischen Konzentratherstellung und –weiterverarbeitung: In der Essener Zentrale möchte man per Werbeblatt gerne den Eindruck vermitteln, dass diese Aufgabenteilung gänzlich uneigennütziger Natur ist, „um den auf der ganzen Welt geltenden Grundsatz, das Geschäft nicht allein zu machen, auch in Deutschland nicht zu durchbrechen“. Der Wirtschaftsjournalist Willi Bongard vermutet später im Rahmen eines für DIE ZEIT verfassten Firmenportraits jedoch auch noch einen anderen Beweggrund: „Das Prinzip der Dezentralisation entspringt nicht etwa einer besonders mittelstandsfreundlichen Haltung, sondern hat seinen Grund in einem physikalischen Tatbestand, nämlich der Schwerkraft. Die macht sich je Kiste (24 Normalflaschen à 0,2 Liter Inhalt) mit 18,6 Kilogramm aus. Der Inhalt macht demgegenüber nur 4,9 Kilogramm aus, fällt also buchstäblich nicht ins Gewicht. Es würde sich also kaum verlohnen, Coca-Cola zentral herzustellen und von einem Ort in alle Welt – bis hin zum letzten Tante-Emma-Laden zu transportieren.“ In den 1930er Jahren jedenfalls gestaltet sich dieses Konzept so erfolgreich, dass auch die Machtergreifung der Nationalsozialisten erst einmal keinen Einfluss auf das Geschehen nimmt und der Geschäftsführer der deutschen Coca-Cola-GmbH, Max Keith, in mehreren aufeinander folgenden Jahren sogar Verdoppelungen der jeweiligen Umsätze bilanzieren kann. Trotz Versuchen der Konkurrenz, den Konzern bei den Nazis zu diffamieren, bilden die Olympischen Spiele 1936 in Berlin einen vorläufigen Höhepunkt in der Verkaufsstatistik und die als Hemmschuh gedachte Maßnahme, dass sämtliche Flaschen mit dem Aufdruck „coffeinhaltig“ zu kennzeichnen seien, sollte sich aufgrund eines zunehmenden Mangels an Kaffee letztlich sogar als verkaufsfördernd erweisen. Erst 1942 muss die Produktion eingestellt werden, weil die Amerikaner wegen der sich zuspitzenden politischen Situation nicht mehr gewillt sind, den nötigen Sirup-Grundstoff nach Deutschland zu liefern. Dass die Fabrikationsanlagen trotzdem nicht zum Stillstand kommen, ist Keiths unternehmerischer Weitsicht zu verdanken. Bereits zwei Jahre zuvor hatte er mit Fanta (abgeleitet von fantastisch) ein Ersatzgetränk auf Molkebasis entwickelt, das nun vorübergehend den Betrieb aufrechterhält.

Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges verschlechtert sich die Versorgungslage sogar noch und es besteht Mangel an nahezu allem, so auch an Zucker, der strengstens rationiert werden muss. Unberührt davon bleiben jedoch acht im Schnellverfahren in der amerikanischen Besatzungszone errichtete Coca-Cola-Fabriken, die die Versorgung der hier stationierten Soldaten gewährleisten sollen. Erst als 1949 die Rohstoffe endlich in ausreichenden Mengen zur Verfügung stehen, kann auch die deutsche Bevölkerung wieder beliefert werden. Die Tatsache, dass Coca-Cola zu dieser Zeit trotz mehrjähriger Verkaufsunterbrechung immerhin noch an 18. Stelle der Markenprodukt- Bekanntheitsskala liegt, zeigt den Werbern, dass sie nicht in jeder Beziehung von vorne beginnen müssen. „Coca-Cola ist wieder da!“ verkünden daher allenthalben die Plakate und „Wirtschaften und Erfrischungsbuden holen ihre verrosteten Reklameschilder wieder aus dem Keller und polieren die Glamour-Girls auf Hochglanz. Neue Coca-Cola-Mädchen gibt es vorerst aber nicht“, weiß 1950 wiederum DER SPIEGEL. „Die amerikanischen sind zu teuer und deutsche müssen erst noch erfunden werden. Essens dreiköpfige Werbeabteilung für Deutschland hat sich nach ergebnislosem Suchen einer landeseigenen Werbe-Venus („die Entwürfe der Graphiker waren zu surrealistisch und die Maler sind zu künstlerisch für so was“) vorläufig für einfache Metallschilder entschieden, kreisrund und rot.“ Ergänzendes zum Thema gibt es in einer Coca-Cola-Werbeschrift zu erfahren: „Damit der Konsument auch weiß, wo er „Coca-Cola“ bekommt, bringt der Fahrverkäufer an allen Verkaufsstellen eine Außenwerbung an, jene lustigen roten Punkte, die den Weg zur erfrischenden Pause mit „Coca-Cola“ finden helfen. Das ist ein kleiner, aber guter Dienst für alle unsere guten Freunde.“ Doch nicht nur die eigene Werbung trägt zur steigenden Beliebtheit des amerikanischen Kultgetränkes bei, sondern auch das werbliche Unvermögen der deutschen Konkurrenz in Verbindung mit diversen zeitgenössischen Lebensmittelskandalen. „Wie wirbt man für Getränke?“ ist ein 1950 erschienener Artikel des Werbefachblattes „Graphik“ betitelt, der in der Folge viel sagenden Aufschluss über die damaligen Verhältnisse auf diesem heiß umkämpften Sektor gibt und zudem das Coca-Cola-Erfolgsrezept – mit spürbarem Neid ob dessen Professionalität – gleich zu Beginn auf den Punkt bringt: „Bei den alkoholfreien Getränken fehlt es vor allem an einer tragfähigen herstellerischen und werblichen Idee, etwa nach dem Vorbild von Coca-Cola…Vom Ursprungs-Land, von der Entstehung und Entwicklung, von der Geschichte, von den Grundstoffen, ihrer Mischung und Konzentration müsste man bis zu den Versand- und Vertriebsmitteln und dem hohen Aufwand für Planung und Werbung im weitesten Sinne vordringen. Das Material dafür ist vorhanden. Was aber wäre damit gewonnen, solange die einheimische Getränke-Wirtschaft kein Erzeugnis herausbringt, das bei verwandter Wirkung dem deutschen Gaumen mehr zusagte als das amerikanische Getränk? Das Preisschleudern und Panschen bei alkoholfreien Getränken, die Beigabe von chemischen Stoffen und Sacharin, wo ein naturreines Getränk erwartet wird, haben das Vertrauen der Käufer untergraben.“ Bei Coca-Cola ist man sich dieser Stimmung offensichtlich bestens bewusst und legt daher ganz besonderen Wert auf vertrauensbildende Maßnahmen. Unter dem Motto „Das offene Fenster“ erhält jede neu gebaute Abfüllfabrik „ein großes Schaufenster, das dem Publikum bei Tag und bei Nacht einen Blick in den Produktionsraum gestattet. Die Abfüllung findet also im wahrsten Sinne des Wortes in der Öffentlichkeit statt“. Im weiteren Verlauf eines entsprechenden Werbeheftes werden „strahlend weiße Produktionsräume mit blitzblanken Maschinen“ in Wort und Bild vorgestellt: „Der Konsument soll sich darauf verlassen dürfen, dass sein Vertrauen in die Sauberkeit und Hygiene bei der Abfüllung niemals enttäuscht wird.“

So steht denn auch in einer der frühesten in den 50ern zu entdeckenden Zeitschriftenwerbungen eine integre, Vertrauen erweckende und über jeden Zweifel erhabene Persönlichkeit im Mittelpunkt: Der Weihnachtsmann!

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„Wohlverdient hat auch er eine kurze Pause zwischendurch. Er weiß, was Millionen Menschen täglich trinken, muss gut und bekömmlich sein.“ 1931 taucht „Santa Claus“ erstmals in der amerikanischen Coca-Cola-Werbung auf. Der Zeichner Haddon Sundblom ließ sich bei seinem Werk durch das großväterlich-gütige Antlitz eines pensionierten Firmenangehörigen inspirieren und verpasste seiner Figur schließlich als Krönung einen Mantel in den traditionellen Coca-Cola-Farben rot und weiß. Entgegen der heute vielfach zu lesenden Meinung, dass der Konzern damit den Weihnachtsmann in dieser Form „erfunden“ hätte, tauchte dieser an anderer Stelle in ähnlichem Outfit aber auch schon früher auf. Immerhin dürften die jährlich wiederkehrenden und mittlerweile regelrecht zelebrierten Werbekampagnen des Getränkeriesen jedoch nicht unerheblich dazu beigetragen haben, dass uns die Version des „Coca-Cola-Weihnachtsmanns“ inzwischen die Vertrauteste von allen geworden ist. Hintergrund des Ganzen ist aber wieder mal ein Konsumtechnischer: War der Genuss von Erfrischungsgetränken für die meisten Menschen lange Zeit auf die warmen Monate des Jahres beschränkt, sollte „das herzhafte Labsal für jedermann“ bei den Konsumenten durch Slogans wie „Durst kennt keine Jahreszeit“ oder eben weihnachtliche Werbung auch in den Herbst- und Wintermonaten etabliert werden.

Über das Motiv hinaus hat die beschriebene Anzeige aus dem Jahr 1951 für damalige Verhältnisse eine Besonderheit zu bieten, die heute eine absolute Selbstverständlichkeit darstellt: Sie ist in Farbe abgedruckt! Zu finden in einer Ausgabe von „Das Beste“ aus Readers Digest bot genanntes Magazin durch eine Vielzahl zahlungskräftiger Werbekunden aus den USA schon früh die Möglichkeit dazu, während vielen anderen Zeitschriften noch die finanziellen und daher auch die technischen Voraussetzungen fehlten. Folglich waren dort in der Regel nur einfarbige Anzeigen im Schwarz-weiß- oder Braundruck zu finden. Zwar konnten in einigen Fällen bereits die Umschlagseiten farbig gestaltet werden, aber für die Seiten im Innenteil standen beispielsweise der Brigitte ab Mitte 1952 lediglich zwei Farben zur Verfügung, zwei Jahre später waren es drei und erst 1956 wurde ein Vierfarbdruck in größerem Umfang möglich. Zudem gibt man im selben Jahr den „Rücktitel als Anzeigenplatz frei“ und wirbt damit seinerseits in Werbefachzeitschriften: „Neben den bereits bestehenden Möglichkeiten einer farbigen Inseration im Inneren des Blattes bietet Brigitte der werbenden Wirtschaft als Neuestes die Veröffentlichung mehrfarbiger ganzseitiger Anzeigen auf der vierten Umschlagseite.“

Zu Beginn der 50er geht es für die Werbetreibenden daher noch vorrangig darum, aus den vorhandenen Möglichkeiten das Beste zu machen. „Um aber überhaupt die Beachtung und Aufmerksamkeit des Lesers zu erregen, bedarf die Anzeige unbedingt einer entsprechenden Gestaltung“, fordert daher die zeitgenössische „Gebrauchsgraphik-Fibel“, „und zwar einer graphisch sehr überlegten Gestaltung, da bei ihr eine zusätzliche Unterstützung durch Farbe nur in einem sehr geringen Prozentsatz der Fälle möglich ist.“ Bei Coca-Cola setzt man dies 1952 mit einer nicht sehr originellen, dafür aber formal klar gegliederten Anzeigenserie um, die durch ihre immer gleiche Grundstruktur einen hohen Wiedererkennungswert besitzt. Sich abwechselnde Bilder im oberen Drittel werden im Mitteldrittel mit kurzen, ebenso launigen wie belanglosen Texten beschrieben. Der untere Teil ist für das Produkt selbst sowie den markanten Punkt mit dem Firmenlogo reserviert, in den der Betrachter nach einiger Zeit trotz schwarz-weißer Abbildung die rote Farbe regelrecht hineinzusehen scheint. Als Blickfang dienen Motive, die in der Mehrheit alltägliche Situationen aus dem Arbeitsleben abbilden. Überhaupt bildet die Arbeiterschaft eine zu dieser Zeit von der Coca-Cola-Werbung ganz gezielt ins Visier genommene Bevölkerungsgruppe. Warum dies so war, verrät eine zeitgenössische Kaufkraftanalyse im Werbe-Fachblatt Graphik: „Die breite Schicht des guten alten Mittelstandes, auf den Verlass in allem war, gibt es nicht mehr. Was noch davon übrig geblieben ist oder mit verwandter Grundhaltung neu entsteht, sorgt sich ab und spart. Sehr viel lockerer sitzt der arbeitenden Bevölkerung das Geld, besonders beim Einkauf von Nahrungs- und Genussmitteln. Nicht in großen, aber in unzähligen kleinen Beträgen.“ Also gönnen sich in der Coca-Cola-Werbung ein LKW- und ein Motorradfahrer die „erfrischende Pause“ an der Raststätte, für eine Sekretärin ist eine „eisgekühlte Coca-Cola die richtige Erfrischung“ im Büro und „wohlverdient hat auch die geplagte Hausfrau eine kurze Pause zwischendurch“. Das besonders herausgestellte „wohlverdient“ bekräftigt jeweils noch einmal den bereits durch die Zeichnungen ohnehin schon entstandenen Eindruck, dass die dargestellten Personen nicht etwa dem Müßiggang frönen, sondern bereits Anstrengendes geleistet haben. Anzeigen wie diese treffen den Nerv der Deutschen, die sich in den Nachkriegsjahren in die Arbeit gestürzt haben, um den Wiederaufbau voranzutreiben und um zugleich in einer Art kollektiver Ablenkung das unselige Geschehen der Kriegsjahre wenn nicht vergessen, so denn zumindest verdrängen zu können.

Holzschnitt-Charakter hat eine vom vielfach bei Plakatwettbewerben ausgezeichneten Bad Homburger Maler und Graphiker Willy Faltin gestaltete Anzeigenreihe, die in den frühen 50ern in Frankfurter Tageszeitungen zu finden ist. Ansichten des lokalen Abfüllbetriebes, der dazugehörige firmeneigene Fuhrpark und sogar die Momentaufnahme einer Restaurantbelieferung werden durch Faltins eindrucksvolle Zeichentechnik zu kleinen Kunstwerken veredelt.

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Zudem nutzen die Coca-Cola-Verantwortlichen den als O-Ton eines Verkaufsfahrers formulierten Begleittext zu einem Statement in eigener Sache: „Die allgemeine Beliebtheit des unnachahmlichen Erfrischungsgetränks und meine eigene Erfahrung – ich trinke nämlich auch ’ne ganze Menge davon – sind der beste Beweis, dass all die Gerüchte, die man hin und wieder über Coca-Cola hört, lächerlicher Unsinn sind.“ Hinter dieser Anspielung verbirgt sich eine Reaktion auf die von der Konkurrenz ins Leben gerufenen „Koordinationsstelle für deutsche Getränke e.V.“, deren einziger Gründungszweck offenbar darin bestand, durch haarsträubende Veröffentlichungen über angebliche gesundheitsgefährdende Eigenschaften Coca-Colas den Ruf des amerikanischen Unternehmens zu untergraben. Die in medizinischen Fachblättern und Gastronomie-Zeitschriften erscheinenden Beiträge entpuppen sich jedoch überwiegend als nicht haltbar, sodass die ominöse Vereinigung bei einem von Max Keith angestrebten Gerichtsverfahren den Kürzeren zieht, den geforderten Schadenersatz nicht zahlen kann und sich schließlich auflösen muss. Immerhin aber machte die Sache den Coca-Cola-Verantwortlichen offensichtlich derart zu schaffen, dass sie sich 1953 veranlasst sahen, für eine gewisse Zeit das Firmenlogo zu ändern. Statt des roten Punktes erscheint in einigen Anzeigen nun ein Signum mit der ebenfalls ein wenig über das Ziel hinausschießenden Behauptung „Das Gute setzt sich durch. Coca-Cola – rein und gesund.

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Ebenfalls zur Vertrauenswürdigkeit beigetragen haben dürfte die Vergabe von Konzessionen an prominente Persönlichkeiten wie den umtriebigen Geschäftsmann und ehemaligen Boxer Max Schmeling, der seine Coca-Cola der Überlieferung nach am liebsten mit Milch gemixt zu sich nahm. Im Versuch, dem Getränkekonzern zu schaden, setzte übrigens Anfang der 60er Jahre ein gewisser Herr Helmut Bickel noch mal eins drauf, indem er mit Hilfe der von ihm herausgegebenen Hamburger Wochenpost und sogar mit auf Schallplatte gepressten Schmähliedern eine Art Privatkrieg gegen den Getränkeproduzenten führte. Und obwohl auch er einen Prozess nach dem anderen verlor, gestaltete sich die Sache für ihn letztlich lukrativ, da etliche Mineralbrunnen- und Limonadenkonkurrenten seine Aktionen mit Abonnementbestellungen in zeitweilig fünfstelliger Höhe unterstützten.

Doch zurück zur Zeitschriftenwerbung: Während zu Beginn der 50er Jahre in der amerikanischen Coca-Cola-Reklame schon längst wieder eine sich vergnügende Freizeitgesellschaft in den Mittelpunkt gerückt wird, bildet hierzulande eine 1952 in der Frauenzeitschrift Constanze zu entdeckende Anzeige mit einem sich sportlich betätigenden Paar noch die Ausnahme. Auch versäumt es der begleitende Text nicht, zu erwähnen, dass Coca-Cola nicht nur bei Spiel und Sport, sondern ebenso „nach jeder körperlichen oder geistigen Anstrengung“ für „einen Augenblick der Entspannung sorgt.“ Um einmal nicht arbeiteten zu müssen, braucht es augenscheinlich einen offiziellen Anlass. Und den bietet in Deutschland natürlich der Karneval.

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„Frisch muss man nämlich bleiben, um die Freuden dieser tollen Tage so recht von Herzen zu genießen“, heißt es in einem entsprechenden Anzeigentext, weshalb sich auch eine dazugehörige tief dekolletierte Schönheit im Luftschlangen- und Konfettiregen „selbstverständlich“ mit einer Flasche Coca-Cola erfrischt. Das beschriebene Beispiel steht für die zu dieser Zeit immer größere Verbreitung findenden Zweifarbendrucke, die zwar höhere Kosten verursachen, dafür aber bei geschicktem Einsatz der zusätzlichen Farbe einen deutlich größeren Auffälligkeitsgrad garantieren. Insbesondere das knallrote Coca-Cola Firmenlogo vor dezent koloriertem Hintergrund springt dem Betrachter förmlich ins Auge. Dass aber in den frühen 50er Jahren selbst die Werbeabteilung von Cola-Cola das Geld nicht mit vollen Händen ausgeben kann, zeigt eine 1954 erschienene Reklame, die desgleichen „die fröhlichste Zeit des Jahres“ zum Thema hat. Auch hier wurden lediglich zwei Farben verwendet, obwohl, wie eine zeitgenössische Postkarte mit identischem Motiv belegt, diese Vorlage ebenfalls „bunt“ zur Verfügung gestanden hätte und in der veröffentlichenden Zeitschrift „Das Beste“ von den technischen Voraussetzungen her ein mehrfarbiger Abdruck durchaus möglich gewesen wäre. Ein Jahr später gibt’s dann Karneval „zum Dritten“, diesmal endlich komplett in Farbe und mit einer für Coca-Cola-Werbung untypischen, da vor erotischer Spannung geradezu knisternden Darstellung. Obwohl er seine Flasche mit dem erfrischenden Inhalt gerade trinkbereit zum Munde führt, ist der zeichnerisch in Szene gesetzte Karnevalist mit Augen und Gedanken in diesem Moment offensichtlich „ganz woanders“.

Auch wenn viele Coca-Cola-Anzeigen aus dieser Zeit recht „amerikanisch anmuten“, scheinen dennoch die meisten eigens für den westeuropäischen und zumindest die zuletzt genannten speziell für den deutschen Markt konzipiert worden zu sein. In der Regel ist dies jedoch sehr schwer einzuschätzen, da von Werbeagenturen naturgemäß großer Wert darauf gelegt wird, eine möglichst große Zielgruppe anzusprechen und man somit bemüht ist, alle im Bild zu erkennenden Accessoires so weit es geht unverbindlich und geschmacksneutral zu halten. Mitunter schleichen sich dann doch Details ein, die Anhaltspunkte für eine Einordnung bergen. So sind zum Beispiel bei einem abgebildeten Küchenherd die Bedienelemente US-untypisch an der Vorderfront angeordnet und in einer Anzeige aus den 60ern gibt es für den Betrachter im Hintergrund als dekorativen Wandschmuck drei Wappen schwedischer Provinzen zu entdecken.

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Bei einer weiteren Reklame, die einen Sportreporter beim Kommentieren eines Sportereignisses abbildet, vermischen sich die Indizien. Während ein im Hintergrund zu erkennendes Stadion aufgrund seiner großzügigen Dimensionen wohl ein amerikanisches Vorbild hat, kommt ein die Zeichnung umschließender asymmetrischer roter Rahmen wie ein Vorbote der wenige Jahre darauf auch in der hiesigen Werbung sehr beliebten Nierenform daher.

Ist Coca-Cola in Deutschland bis dahin bereits sehr gut im Geschäft, kann die Essener Tochtergesellschaft gegen Mitte der 50er noch einmal erhebliche Marktanteile hinzu erobern. „Schuld“ daran ist ein neuer Werbslogan, der dermaßen gut ankommt, dass er schon bald in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeht. „Mach mal Pause“ lautet die ebenso einfache wie geniale Schöpfung, die sich insbesondere in Verbindung mit einer einprägsamen Radiowerbung in den Köpfen der Menschen verankert. „Da der Slogan nach Silbenzahl und Rhythmus auf die Wort-Marke Coca-Cola abgestimmt war, konnte man mit den zweimal vier Silben „Mach mal Pause – Coca Cola“ ein einprägsames akustisches „Plakat“ schaffen. Die Melodie wurde nicht eigentlich komponiert, sondern sozusagen von der Straße aufgelesen. Sie entsprach dem vom Straßenhandel her vertrauten „Hei-ße Würst-chen“ oder „Il-lus-trier-te“. (Bongard – Das große Geschäft mit der kleinen Pause). Zusätzlicher Clou der Radiospots war ein einleitender Pausenpfiff, der bald so populär wurde, dass er von Bauarbeitern bis hin zu Schulkindern als weit hörbares Signal zur Arbeitsunterbrechung übernommen wurde. Verantwortlich für „Mach mal Pause“ zeichnet mit dem Essener Hubert Strauf eine der prägenden Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegswerbung, aus dessen Feder ebenso Klassiker wie „Pril entspannt das Wasser“ oder „Herta, wenn’s um die Wurst geht“ stammen. Dass die Werbung zu dieser Zeit noch in den Kinderschuhen steckt, offenbart Straufs 1959 erschienenes Lehrbuch „Die moderne Werbeagentur in Deutschland“, das erst einmal Grundsätzliches über die Konzeption solcher Kampagnen vermitteln möchte: „Die moderne Werbetechnik erfordert eine tragende Idee, einen „roten Faden“, an dem sich der Werbeempfänger bei jeder neuen Werbebotschaft für das Produkt orientieren kann…Meist wird entweder ein einprägsames, ansprechendes Bildmotiv dieses Kernstück bilden oder eine kurze, wirksame Werbeaussage, die man mit dem auch bei uns allmählich eingebürgerten Begriff Slogan bezeichnet.“ Eindeutig auf letzterem basiert der übergroße Erfolg der Coca-Cola-Kampagne, Straufs Idee befindet sich voll auf der Höhe der Zeit. Im mittlerweile wirtschaftswunderlich erblühenden Deutschland arbeiten die Menschen nach wie vor viel und nicht selten auch zu viel, was häufig zu Lasten der Gesundheit geht. Zeugnis darüber legt 1955 ein Büchlein mit dem Titel „Angina Temporis“ ab, in dem „ein Wirtschaftler und ein Arzt“ sich Gedanken über „Zeitnot, die Krankheit unserer Tage“ machen: „Wir leben in einer Welt ohne Rast und Ruh. Ständig werden uns neue Erfindungen präsentiert, die Arbeit und Zeit sparen, aber mit jeder neuen Erfindung scheint unsere Zeit knapper zu werden“ Bereits im ersten Erscheinungsjahr mehrfach neu aufgelegt, stößt der Band auf großes Leserinteresse, indem er offenbar vielen arbeitswütigen Deutschen und ihren Familien aus der Seele spricht: „Es scheint allmählich eine der ernstesten Zivilisationskrankheiten dieses Jahrhunderts zu werden, dass jeder ständig in Eile ist…Aus aller Munde tönt es unisono: Keine Zeit.“

„Mach mal Pause“ lag also förmlich in der Luft und die Werbung brauchte es „nur“ aufzugreifen.

Derweil der Werbespruch in aller Munde ist, präsentiert sich die dazugehörige Zeitschriftenreklame vergleichsweise unspektakulär und mehrheitlich in schwarz-weiß. Hubert Straufs Slogan entwickelte sich zu einem solchen Selbstläufer, dass eine farblich auffällige (und damit kostspielige) optische Unterstützung in den Anzeigen der Illustrierten von Seiten Coca-Colas offensichtlich nur in Ausnahmefällen für notwendig erachtet wurde.

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Sind die in diesem Rahmen geschilderten Pausensituationen anfangs noch wie gehabt auf das Arbeitsleben bezogen („Ein paar Sekunden die Augen schließen, den Körper recken und entspannen und dazu die wohltuende Erfrischung genießen“), thematisieren sie in den folgenden Jahren immer mehr die Freizeit, die den Deutschen mittlerweile mit steigender Tendenz zur Verfügung steht, da „die Achtundvierzigstundenwoche fast schon die Regel“ ist. Also fährt ein junges Paar mit dem Motorroller „flott und bequem“ ins Grüne, wo es dann „fernab vom Alltagsgetriebe picknicken“ will und eine Bootfahrt erlaubt „Ferien vom Ich“, gibt neuen Schwung und „schenkt gute Laune für die ganze Woche“. Gute Dienste leistet dabei mit der „handlichen, leichten und unverwüstlichen Kühltasche aus Plastikmaterial“ „ein neuer Verkaufshelfer“, in dem bis zu zehn Flaschen Coca-Cola stundenlang kalt bleiben.

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Zur Mitte der 50er machen die „Coca-Cola-Hausmitteilungen“ auf ein „neues Phänomen“ aufmerksam: „Das Fernsehen erobert den Feierabend, man bleibt zu Hause“. Getreu der Konzernphilosophie „neue Lebensgewohnheiten ergeben neue Märkte“ sind die Werber fortan bestrebt, die Brausefans auch zunehmend in deren eigenen vier Wänden zum Konsum des Erfrischungsgetränkes zu animieren. Kein leichtes Unterfangen, da nach wie vor der möglichst „eiskalte Genuss“ beworben wird, im Jahr 1955 aber erst in gerade einmal 10 Prozent der deutschen Privathaushalte ein elektrischer Kühlschrank zum Inventar gehört und laut Statistischem Jahrbuch nur bei fünf Prozent der Befragten „Cola-Getränke im Haus vorhanden“ sind Als sich gegen Ende 50er im Zuge des Wirtschaftswunders dann aber immer mehr Menschen auch kostspieligere Anschaffungen erlauben können, wird die dahingehende Werbung noch einmal forciert. Bei einem beworbenen „kleinen Familienfest“ vor dem Fernseher im heimischen Wohnzimmer „dürfen die Kinder ein wenig länger aufbleiben und Mutti spendiert dazu Coca-Cola“.

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Aufgrund der zu erwartenden Schwierigkeiten, die durch Fernseh- und Koffeinkonsum stimulierten Sprösslinge anschließend ins Bett zu kriegen, dürfte dies jedoch für „Mutti“ sicherlich der erste und zugleich auch letzte Versuch gewesen sein, auf diese Art und Weise eine familiär-gemütliche Feierabendatmosphäre zu schaffen.

Mit Abstand am häufigsten zu entdeckendes Anzeigenmotiv aber sind Restaurantszenen, bei denen dem Betrachter unwillkürlich der Ausdruck „gepflegte Gastlichkeit“ in den Sinn kommt.

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Dass das ehemalige Pausenerfrischungsgetränk mittlerweile in der Tat gesellschaftsfähig geworden ist, wird unter anderem durch seinen von den Abgeordneten rege in Anspruch genommenen Ausschank im Bonner Bundeshaus unterstrichen.

Zu Beginn der 60er hält man bei den Coca-Cola-Verantwortlichen „Mach mal Pause“ für nicht mehr zeitgemäß, weil ausgiebige Arbeitspausen infolge florierender Konjunktur und annähender Vollbeschäftigung mittlerweile eine Selbstverständlichkeit geworden sind.

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Da aber Nachfolger wie „..auch eine..“ oder „Besser geht’s mit Coca-Cola scheinbar nicht annähernd so gut ankommen wie der Vorgänger, ist „Mach mal Pause“ unter dem offensichtlichen Motto „doppelt hält besser“ noch bis zum Ende der 60er Jahre auf etlichen Anzeigen als eine Art unterstützender „Co-Slogan“ zu entdecken. Die Motive der 60er besitzen nicht mehr die Ecken und Kanten ihrer Vorgänger, da sie mittlerweile weltweit eingesetzt werden und folglich unverbindlicher in ihren Bildaussagen sein müssen, bieten aber jede Menge 60er-Jahre-Lifestyle, sind hübsch anzuschauen und daher sicherlich ebenfalls sammelnswert.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg ist Coca-Cola Werbung ab Ende 1951 wieder in deutschen Zeitschriften zu finden, besonders häufig wird der Interessierte in „Das Beste“ von Readers Digest sowie anderen Magazinen mit hohen Auflagen und einem daher großen Werbeanteil wie beispielsweise Constanze oder Bunte fündig. Es gibt jedoch kaum eine Illustrierte, in der im Laufe der Zeit nicht irgendwann einmal eine Coca-Cola Anzeige abgedruckt wurde. Etliche Motive wurden auch mehrfach „verwurstet“ und finden sich identisch oder in leicht abgewandelter Form auf Faltblättern oder auch den jährlich herausgegebenen Taschenkalendern im Spielkartenformat wieder. Darüber hinaus schaltete die Essener GmbH in Telefonbüchern und Programmheften eine unüberschaubare Zahl von graphisch recht einfach in Szene gesetzten Inseraten, deren Darstellungen in letztgenannten häufig einen inhaltlichen Bezug zur jeweiligen Veranstaltung aufweisen. Im Vergleich zur Plakatwerbung oder zu in amerikanischen Zeitschriften zu entdeckenden Anzeigen ist die deutsche Illustrierten-Reklame sicherlich weniger bunt und spektakulär. Dafür kann sie aber, insbesondere in den 50er Jahren, mit aussagekräftiger Authentizität sowie, durch ihre schlichte, schwarz-weiße Gestaltung bedingt, mit einem überaus reizvollen antiquierten Charme aufwarten. (Jörg Bohn im Sammlermagazin „TRÖDLER“, Heft 4 / 2009) (1)

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Und hier eine der seltenen Werbesingles von Coca Cola aus den 50er Jahren.

Musikalisch, nun gut, was kann man da erwarten ? Den üblichen Happy-Sound jener Jahre gepaart mit dem exotischem Thema Cola und Rum … wobei mir dann doch die Variante Cola und Whisky dann doch lieber wäre.

Ich wünsche schmunzelndes Hören !

Übrigens; Man muss Coca Cola nun wirklich nicht mögen, aber dennoch gehört auch dieses Produkt zur Konsumgeschichte unseres Landes.

Und nein: ich habe keinen Sponsorenvertrag mit dieser Firma.

BackCover1

Besetzung:
Eine kleine Schar unbekannter Studiomusiker

Seite A+B

Titel:
01. Rum & Coca Cola (Sullavan/Baron/Mano) 2.29
02. Besser geht´s mit Coca Cola (Backer/Hilarius) 1.57

Labels

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Wieviel Zucker ist in Coca Cola ?
Zucker

(1) gefunden in wirtschaftswundermuseum.de

Alster Studios Hamburg – 25 Jahre Alster Studios (1971)

FrontCover1Um es mal etwas platt zu formulieren … als mir dieses Präsent – völlig unvermutet – ins Haus flatterte  … da fiel mir das Gebiss ins Gras. Eine ganz spezielle Single, die 1971 an Kunden und Freunde des Hauses verschenkt. Die Freunde des Hauses sind in diesem Fall die Freunde der Alster Studios, Hamburg:

Im Mai 1946 überraschte die Zeitung „Hamburger Freie Presse“ ihre Leser mit der folgenden Meldung: „Der Traum von der Filmstadt Hamburg ist offenkundig doch mehr als ein bunter Luftballon; denn am Montag wurde im lenzlichen Ohlstedt das Alsterfilm-Atelier stimmungsvoll eingeweiht. Aus einem ehemaligen Gasthof entstand es, in besessener Arbeit einiger tüchtiger Filmtechniker und Kaufleute und unter wohlwollender Förderung der zuständigen Instanzen der Militärregierung. Allerdings werden in diesem gefälligen Atelier vorerst keine deutschen Filme hergestellt, sondern englische Filme vollsynchronisiert, daß heißt, es wird den englischen Schauspielern ein sinngerechter deutscher Text in den Mund gelegt …“.

Bis 1994 waren die ALSTER-FILM-STUDIOS führend auf dem Gebiet der Synchronisation und Endfertigung von Filmen, Fernsehserien und Werbespots. Die Techniker dieses Tonateliers spielten Ende der 40er Jahre eine wichtige Vorreiterrolle beim Einsatz des Magnetton-Aufnahmeverfahrens für Filmproduktionen in Deutschland. In den Tonateliers der Firma mit Sitz am Hamburger Stadtrand bekamen die ersten deutschen Nachkriegsproduktionen wie „Arche Nora“ und „In jenen Tagen“ genauso ihren letzten akustischen Schliff wie später die Kult-Fernsehserien „Bonanza“, „Columbo“ oder „Knight Rider“, deren deutsche Synchronfassungen hier entstanden.

Beispiel01

Alles begann mit der Hinterlassenschaft des wohl merkwürdigsten Filmprojektes am Ende des Dritten Reiches, bei dem Reichspropagandaminister Goebbels angeblich sogar höchstpersönlich am Drehbuch mitschrieb: Die von der Berliner Produktionsfirma UFA für den letzten NSPropagandafilm „Das Leben geht weiter“ unter der Regie von Wolfgang Liebeneiner zu einem Fliegerhorst in die Lüneburger Heide geschafften technischen Geräte überstanden den Krieg unbeschadet (ganz im Gegensatz zum eigentlichen Aufnahmematerial des bei Kriegsende erst zu Zweidrittel fertiggestellten Films, welches – mit Ausnahme weniger Standfotos – bis heute als verschollen gilt!). Unter den zurückgelassenen Gerätschaften befand sich auch eine komplette, voll funktionsfähige Lichtton-Apparatur.

Zusammen mit Projektoren, Bandspielern und Mikrophonen aus ehemaligen Bildstellen von Heer und Luftwaffe bildete sie den Grundstock für die am 1. Mai 1946 von der Britischen Militärregierung zugelassene „ALSTER FILM ATELIER BRECKWOLDT & CO.“ (Military Government Germany, Abteilung Information Control, Licence Nr. C 8 50 F). Diese Lizenz berechtigte Wilhelm Breckwoldt und Franz Wigankow mit sofortiger Wirkung, „ein Synchronisierungs-Atelier sowie einschlägige Nebenbetriebe“ zu errichten und betreiben (drei Monate später wurde das benachbarte ATLANTIK FILM KOPIERWERK gegründet, siehe dazu auch „Hamburger Flimmern“ Nr. 3).

Beispiel02

Die Britische Militärregierung hatte ein großes Interesse daran, die Errichtung eines Betriebes zu fördern, da sie auch ihre eigenen Produktionen (wie die z.B. die Army-Monatsschau) nun in der von ihr besetzten Zone herstellen lassen konnte und damit den zeitaufwendigen Umweg über britische Kopier- und Vertonungswerke sparte. Zudem konnten die Briten ihre Filme dem deutschen Publikum „mundgerecht“ verkaufen und dadurch den Erfolg in deutschen Lichtspieltheatern wesentlich steigern.

Der am 1. Oktober 1905 in Hamburg geborene Wilhelm Breckwoldt hatte schon in der Vorkriegszeit sein kaufmännisches Talent erfolgreich unter Beweis gestellt, so als er sich beispielsweise 1927 knapp 1200 Reichsmark von einer Freundin lieh und mit einer Schreibmaschine seine ersten Exportgeschäfte nach Malta startete. Zu Beginn der 70er Jahre war daraus ein weltumspannender Handelskonzern namens Breckwoldt-Gruppe (kurz: BREWO) geworden, zu dem nicht nur die ALSTER FILMINDUSTRIE GmbH und das ATLANTIK FILM KOPIERWERK Hamburg gehörten, sondern insbesondere auch Export-, Transit- und Reisegeschäfte aller Art mit 28 Niederlassungen in Afrika, Lateinamerika und dem pazifischen Raum (Breckwoldt selbst wurde 1965 Generalkonsul für den afrikanischen Staat Sierra Leone in Hamburg; zurückgezogen vom Geschäftsleben verstarb er am 12. November 1984 in Hamburg).

Beispiel03

Unter großen technischen Schwierigkeiten und der Verpflichtung zur Einhaltung diverser strenger Gesetze, Vorschriften und Anordnungen der Alliierten Militärbehörden hatte noch im Mai 1946 die Arbeit im ersten Synchronisations-Atelier der britischen Besatzungszone in Ohlstedt begonnen. Man baute den ehemaligen Tanzsaal eines Gasthofes zum Tonstudio um. Von Anfang an dabei war neben Breckwoldt, Bruno Jensen und Franz Wigankow auch der spätere Tonmeister Hans-Joachim Wulkow, der sich wie folgt erinnert:

„Mein Bruder hatte schon vor dem Kriege bei Borgstädt als Kameramann gearbeitet und zuvor bei der KOSMOS-Film an der Wandbeker Chaussee. Ich habe dort auch zunächst für zwei oder drei Monate gearbeitet. Kurz darauf habe ich zusammen mit dem Ingenieur A. Reimer, den ich bei der KOSMOS kennengelernt hatte, bei ‘Radio-Lorenz’ am Steckelhörn angefangen, Radios für den Schwarzmarkt zu bauen, was zu der Zeit sehr lukrativ war. Dort erzählte mein Bruder von dem Gerücht, daß in Ohlstedt ein neuer Filmbetrieb aufgebaut werden sollte. Da habe ich mich auch gleich vorgestellt und Breckwoldt stellte mich als Laufbursche an. Der Elektromeister Richard Semler und die ehemaligen UFA-Mitarbeiter Arthur Schlecht und Werner Schlagge fingen zusammen mit mir an. Mein eigentlicher Lehrmeister aber war Robert Fehrmann. Improvisation war damals alles. Wir hatten aus anderen Quellen Plattenschneidegeräte, die wir dann zu einfachen Plattenspielern umfunktioniert haben, als Musikquelle. Ferner standen uns ein Mikrophon und ein umgebautes, kombiniertes Mischpult zur Verfügung. Es mußte damals alles ‘live’, d.h. gleichzeitig gemacht werden. Der Sprecher stand im Studio, das Bild wurde mit einem Filmprojektor vorgeführt und es wurden Proben mit Geräuschen und gegebenenfalls auch Musik von zwei oder drei Schallplatten gemacht. Dann wurden die Platten synchron zum Bild abgespielt, der Sprecher bekam ein Zeichen, wann sein Sprecheinsatz erfolgen mußte – und alles wurde gleichzeitig von der Lichttonkamera aufgenommen.

Im Tonstudio (1948/49):
Beispiel04

Das funktionierte prima, nur durfte möglichst kein Fehler passieren, denn man konnte alles höchstens ein- bzw. zweimal machen, da mehr Tonspuren bei Lichtton ja nicht zur Verfügung standen. Und wenn etwas schiefging, mußte man wieder von vorne beginnen, mit neuem Filmmaterial, und das war damals ja bekanntlich sehr teuer! Es war immer wieder spannend, etwas auszuprobieren, was eigentlich so bisher noch nicht gemacht worden war, wie zum Beispiel das Markieren von O-Tönen auf Schallplatten mittels eines Wachsstiftes, um sie zum exakt richtigen Zeitpunkt einzuspielen. Wir waren immer froh, wenn uns so etwas perfekt glückte, wie z.B. bei den Aufnahmen von der Sprengung des Berliner Glockenturmes im Olympiastadion, wo wir die Detonation – dieses ‘krrrwummms’ – von einer Schallplatte nachträglich auf das Filmmaterial kopierten und keiner hat gemerkt, daß gar nicht die richtige Sprengung zu hören war. Viele Geräusche, die nicht auf Schallplatte vorrätig waren, haben wir übrigens selbst hergestellt …“

Ein Werbefilm in eigener Sache zu Beginn der 60er Jahre demonstriert, mit welchem Einfallsreichtum und Improvisationstalent man das „Geräuschemachen“ bei der ALSTER betrieb: Wurde zum Beispiel bei einer Filmszene das Stampfen von Militärstiefeln als Hintergrundgeräusch benötigt, kommandierte man einfach ein Dutzend Mitarbeiter auf den Firmenhof, die nun emsig bemüht waren, im Kreise vor dem aufgestellten Mikrophon mit ihrem Schuhwerk die benötigten O-Töne zu rekonstruieren. Um das charakteristische Knarren von Ruderblättern zu erzeugen, benutzte man einen alten, vierbeinigen Holzstuhl, den ein Mitarbeiter dann als „Wippe“ benutzte. Daß das „Klappern zum Handwerk“ bei der ALSTER gehörte, demonstrierten nicht zuletzt sehr eindrucksvoll zwei hohle Kokosnußhälften, die für die Erzeugung von „Pferdehuf-Geklappere“ benutzt wurden.

Das zweite Standbein des Wilhelm Breckwoldt: Das Atlantik Filmkopier-Werk, Ohlstedt:
Beispiel07

Die beschauliche Ruhe der Walddörfer erwies sich durchaus als Vorteil für das Synchronisationsgeschäft; nur der Umstand, daß das Tonatelier in der Einflugschneise des Flughafens Fuhlsbüttel lag und natürlich noch nicht schalldicht war, führte zeitweise zu dem Kuriosum, daß Mitarbeiter des Betriebes abwechselnd auf dem Dach Ausschau nach einfliegenden Maschinen halten mußten, damit die Synchronisation dann sofort gestoppt werden konnte. Das war noch zur Lichtton-Aufnahme-Zeit und nur ein einziger Fehler oder ein landendes Flugzeug, und 300 Meter Tonnegativ im Format 35- mm waren unbrauchbar! Um dem abzuhelfen, wurden in den folgenden Jahren bei den ALSTER FILM STUDIOS die ersten Versuche unternommen, den Magnetton für die Filmaufnahme zu benutzen. Man baute ein altes Dora-Koffer-Magnetophon aus Wehrmachtsbeständen zu einem Magnetophon mit Hochfrequenz-Vormagnetisierung um. Nach einigen Versuchen wurde, vielleicht sogar zum ersten Male in der Filmgeschichte, Ton für einen Film zuerst auf Magnetband aufgenommen. Heute noch ist weitgehend unbekannt, daß im Osten Hamburgs der möglicherweise erste Schritt zur später weltweit im Filmbereich verwendeten Tonaufnahmetechnik auf Magnetmaterial, Branchenjargon Senkelband (wegen der geringen Bandbrite von 1/4 Zoll bzw. 6,25 mm) unter der Leitung von Robert Fehrmann getan wurde. Diese allererste, inzwischen längst ausgemusterte Magnetophon- Anlage überlebte aller Verschrottungsversuche nur Dank der Initiative des Tonmeisters Hans-Joachim Wulkow, in dessen Keller sie heute ein ganz besonderes Museumsstück darstellt (und nun dankenswerterweise sogar unserem Museum übergeben werden soll!).

Beispiel08

Man mag heute im Zeitalter von Computer- und Digitalsound- Systemen über die damalige Erfindung lächeln, aber man muß bedenken, daß es damals weder perforiertes Magnetton-Material noch PERFO- Aufnahmemaschinen und -bandspieler gab. Erst mit Einführung dieser neuen Technik wurden alle Vertonungsarbeiten vereinfacht. Viele erfahrene Cutter glaubten nicht, daß sich dieser Neuerung, die unter Mitwirkung der Telefunken entstand, jemals durchsetzen würde. Man konnte ja beim Schneiden des Tones die Aufzeichnung nicht mehr genau sehen. Wie sollte man da überhaupt bildgenau arbeiten? Doch die Skeptiker wurden bald durch die erfolgreiche Praxisanwendung eines Besseren belehrt, auch wenn die Umstellung für viele Mitarbeiter erhebliche Schwierigkeiten mit sich brachte.

Begonnen hatte das ALSTER FILMATELIER BRECKWOLDT & CO. mit der Synchronisation des britischen Spielfilms „The Halfway House“ (deutscher Verleihtitel: „Zum halben Wege“), danach folgte die tonmäßige Endbearbeitung der beiden ersten deutschen Nachkriegsproduktionen: Helmut Käutners „In jenen Tagen“ und Werner Klinglers „Arche Nora“. „Es gehörte schon eine gute Portion Optimismus dazu, für einige Reichsmark, bei der Lebensmittelzuteilung als Normalverbraucher eingestuft, mit kalten klammen Fingern zu bauen und zu löten“, heißt es in einem „Filmecho“-Artikel zum 25 jährigen Firmenjubiläum 1971. Gebaut wurde das neue Tonatelier hauptsächlich aus Zement, denn Steine und Bauholz gab es nur in ganz kleinen Zuteilungen direkt von der Besatzungsmacht. „Aber vor Erreichen der Baustelle war ein Teil des Materials bereits in unerforschliche Kanäle verschwunden. Da ist es nicht verwunderlich, daß alsbald die Methode der ‘Beschaffung’ manchmal kuriose Formen annahm: Holzschrauben zum Beispiel wurden morgens auf dem Weg nach Ohlstedt aus den Sitzbänken und Fensterrahmen der Hochbahn entfernt“, erinnerten sich Zeitzeugen in der Jubiläumsbroschüre.

Beispiel09

Daß unter abenteuerlichsten Bedingungen gearbeitet wurde, merkte man den ersten Arbeiten auch durchaus an: Schon in einer zeitgenössischen Filmrezension der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ zu Helmut Käutners „In jenen Tagen“ wurde der unzulängliche Ton bemängelt. Ehemalige Mitarbeiter erinnern sich noch gut an die einzige Atelieraufnahme für diesen Film, denn für Käutner sollte eine Szene gedreht werden, in der Schüsse fielen. Der Waffenbesitz war den Deutschen damals aber streng verboten. Also schwatzte man kurzerhand für den Drehtag einem Engländer seine Dienstpistole ab.
Auch die erste Produktion der gerade gegründeten REAL-Film von Walter Koppel und Gyula Trebitsch, „Arche Nora“, entstand weitgehend in dem Ein- Raum-Atelier der ALSTER STUDIOS. Michael Töteberg beschrieb in seinem Buch „Filmstadt Hamburg“ die Dreharbeiten wie folgt: „Die Außenaufnahmen wurden in Hammerbrook gedreht: Den Wohnkahn, die ‘Arche Nora’, hatten die Filmleute an der Bille nahe der Grünen Brücke aufgebaut. Was folgte, erwies sich als weit schwieriger: In Ohlstedt, 30 Kilometer entfernt, verwandelten sie den Tanzsaal einer Gastwirtschaft in ein Behelfsatelier. Der Raum war eigentlich zu klein – sieben Meter breit, 15 Meter lang – und die Decke viel zu niedrig. In dieser Enge hatten Kameramann, Beleuchter und Tonleute kaum Bewegungsfreiheit; eine Totale konnten sie nicht drehen, sondern nur Naheinstellungen. Umbauten waren nicht möglich, man konnte immer nur eine Dekoration aufstellen, Kamerafahrten waren undenkbar, ein Perspektivenwechsel bedeutete stundenlange Unterbrechungen. Die technischen Geräte – in Hamburg waren sie nicht aufzutreiben, man lieh sie sich gegen entsprechende Bezahlung bei der DEFA aus – waren im Waschraum des Lokals untergebracht; vor dem Atelier stand ein gemieteter Zirkuswagen, der den Schauspielern als Garderobe diente … Die Ohlstedter betrachteten das Treiben der Filmleute mit Mißtrauen und Neugier.“

Beispiel10

Erst 1948 konnte die REAL-Film ein eigenes Studio in Tonndorf beziehen. Genauso wie andere Filmproduktionsfirmen mit eigenen Aufnahmehallen überließ man jedoch weiterhin in der Regel die tontechnische Betreuung der REAL-Filme den ALSTER STUDIOS. Gleiches galt übrigens auch für die ONDIA-, KOSMOS-, COMET-, CAMERA- FILM und DIE DEUTSCHE DOKUMENTARFILM- GESELLSCHAFT. Letztere ließ 1959 bei der ALSTER sogar ihre bis dahin größte Produktion, „Die Pamir“, einen Film über die letzten Großsegler, vertonen.
Eine wichtige Rolle beim Aufbau der ALSTER STUDIOS nahm zweifellos auch der am 5. August 1911 in Göttingen geborene Tjado Smid ein, der ab 1948 bei dem Unternehmen als Atelierchef tätig war und von Kunden wie Mitarbeitern im Scherz „Käpt’n“ genannt wurde: Tatsächlich besaß er das Kapitänspatent für große Fahrt und gehörte sogar der Vereinigung der Cap Horniers an. Seine Verbindung zur Seeschiffahrt erkannte man an vielen seiner markanten Aussprüche, seiner manchmal etwas brummigen „Seebär“-Art und der Zufriedenheit, wenn das Schiff (sprich: die Firma) voll geladen hatte „und all People am Bord“ waren. So bildete in einer Fotomontage auch der „Kapitän und seine erfolgreiche Mannschaft“ das Motiv für die Weihnachtspostkarte 1972 des Studios – als Schiffscrew, die immer für den „guten Ton“ auf dem ALSTER-Dampfer sorgte! Völlig unerwartet starb Atelierchef Smid am 17. Februar 1981, sein direkter Nachfolger als Studioleiter wurde Tonmeister Hans-Joachim Wulkow.

Fast alle wichtigen Film-Stars der Nachkriegszeit wie Joseph Offenbach, Richard Münch, Hermann Schomberg, Paul Klingler, Manfred Steffen, Heinz Klevenow, Ida Ehre, Willy Maertens, Ruth Leuwerik, Peter Schütte, Harry Meyen, Robert Mayn, Hans Harloff, Heinz Klingenberg, Kurt A. Jung, Ilse Bally und Eduard Marcks arbeiteten in den ALSTER STUDIOS als Synchronsprecher, und auch bekannte Politiker wie Konrad Adenauer oder Helmut Schmidt vertonten hier ihre Wahlkampf-Spots. Später liehen Friedrich Schütter, Wolfgang Kieling, Volker Lechtenbrink, Werner Veigel oder Dagmar Berghoff ihre Stimme prominenten US-Stars.

Beispiel12

Die 60er Jahre waren die eigentlichen Boom-Jahre des Synchrongeschäfts: Zwar ging die Nachfrage nach synchronisierten Spielfilmen aus dem angelsächsischen Sprachraum zurück, doch das aufkommende Fernsehen kompensierte die im Kinobereich auftretenden Lücken mehr als reichlich. Im sogenannten Fernsehbunker auf dem Heiligengeistfeld war 1950/51 mit der Fernsehproduktion begonnen worden. Was lag näher, als sich auch hier die technische Erfahrung der ALSTER nutzbar zu machen? Viele der ersten Sendungen wurden in Ohlstedt vertont und für die Arbeit im eigenen Hause holte man sich manche Anregungen von der ALSTER. Auch umgekehrt gab es neue Impulse: Der 16mm-Film wurde dem 35mm-Film ebenbürtig. Die Industrie entwickelte laufend neue Apparaturen und bald war ein Schmalfilm genauso schnell und gut wie ein Normalfilm zu vertonen.

Heinz Drache ‘lieh’ dem populären Serienstar John Drake seine Stimme und der französische Kommissar Maigret wurde von Alf Marholm gesprochen. Marina Ried zum Beispiel war in der Fernsehserie „Der Geist und Missis Muir“ die Stimme von Hope Lange. Der Durbridge-Zweiteiler „Die Puppe“, die TV-Serie „Thriller“ und nicht zuletzt die über 100 Folgen à 45 Minuten der überaus erfolgreichen Westernserie „Bonanza“ bekamen den ‘richtigen deutschen Ton’ im ALSTER STUDIO verpaßt. Wenn die Abenteuer der Cartwrights auf ihrer Ponderosa-Ranch jeden Sonntagnachmittag im ZDF über den Bildschirm flimmerten, saß fast die ganze Nation geschlossen vor dem Fernseher. Von den damals erzielten Rekordeinschaltquoten kann man heute in den Sendeanstalten nur noch träumen. Und die Stimme von Familienoberhaupt Ben Cartwright (gesprochen von dem unvergessenen Friedrich Schütter vom Ernst-Deutsch-Theater!) und die seiner Söhne Hoss, Adam und Little Joe (Horst Breitenfeld, Horst Stark, Thomas Pieper) – kurzum der ganze Ton der deutschen Serienfassung – kamen aus Hamburg!

Beispiel11

Im Laufe der Jahre wurden immer neue Tonateliers auf dem Gelände in Ohlstedt gebaut, um den gestiegenen Qualitätsansprüchen gerecht zu werden, wie z.B. das 1970 feierlich eingeweihte Studio IV für die neuen Mehrkanal-Tonaufnahmen. Die ALSTER expandierte und ‘Prominentenwerbung’ hieß das Zauberwort im Wirtschaftswunderland. Ob Franz Beckenbauer für ´ne gute Nudelsuppe alles andere stehen ließ, Curd Jürgens 60 Jahre und kein bißchen weise schmetterte oder Peter Ustinov dem „Dornkaat“-Mann seine Stimme lieh – die ALSTER war immer dabei. In der Hoch-Zeit wurden hier fast 40 Prozent aller deutschen Werbeproduktionen vertont. Wahlkampfspots und Tonbildschauen für die gewerbliche Industrie entstanden bei der ALSTER genauso wie komplizierte Stereo-Musikaufnahmen für Schallplatten- und Rundfunkproduktionen. Am 19. Mai 1971 konnten rund 250 Betriebsangehörige von ALSTER und ATLANTIK das 25-jährige Jubliläum mit zahlreichen Gästen aus der Film-, Fernseh- und Werbebranche feiern. Der damalige Wirtschaftssenator Helmuth Kern würdigte die Bedeutung der in Ohlstedt ansässigen Firmen für das Kulturleben Hamburgs: „Sie geben zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten für Autoren, Musiker, Bühnenbildner und für andere künstlerische Berufe“.
Der Abstieg der ALSTER STUDIOS kündigte sich Ende der 70er Jahre an. Da das Privatfernsehen mit seinem immensen Synchronbedarf wegen politischer Streitigkeiten noch einige Jahre auf sich warten ließ, die Aufträge aber insgesamt – nicht zuletzt aufgrund starker Konkurrenz – zurückgingen, waren die Tonateliers nicht mehr ausgelastet. Dennoch: Großes Lob und zahlreiche Preise erhielten beispielsweise 1980 die ALSTER STUDIOS für die inzwischen legendäre Abmischung und ‘Soundtrack- Kosmetik’ von Wolfgang Petersens Weltkriegsdrama „Das Boot“. Aber solche spektakulären Aufträge alleine konnten die zahlreichen Tonateliers langfristig nicht auslasten. Zudem konnte wegen einer zu geringen Eigenkapitalbasis die Mutterfirma, das Handelshaus Breckwoldt, insgesamt nicht mehr im internationalen Wettbewerb mithalten. Das kostspielige Netz von überseeischen Filialen und Auslandsgesellschaften war der Konkurrenz insbesondere aus Japan und Südostasien nicht mehr gewachsen.

Beispiel13

So wurden Ende November 1980 alle Anteile des persönlich haftenden Gesellschafter Hajo Breckwoldt und der anderen Kommanditisten an eine Tochterfirma des britischen ITM-Konzerns, die Deutsche Meridien Trade GmbH übertragen, die von nun an als MERIDIEN BRECKWOLDT GmbH weitergeführt wurde. Hajo Breckwoldt trennte sich völlig vom Handelshaus und behielt nur eine geringe Beteiligung an den ALSTER STUDIOS, die Ende 1980 an den Porno-Produzenten Alan Vydra (Motto: Porno-Filme mit Niveau und Handlung!) für über eine Million DM verkauft wurden. Der Exiltscheche, der bei Beate Uhse sein Handwerk gelernt hatte, galt branchenintern als einer der ‘erfolgreichsten Porno-Filmer der Welt’ und wollte das mit seinen Sexfilmchen verdiente Geld nun mit dem Kauf der ALSTER STUDIOS gewinnbringend anlegen. Er versuchte die Tonateliers auf den neuesten technischen Stand zu bringen und baute u.a. neue Dolby-Stereo-Aufnahmegeräte ein. Eine weitere bahnbrechende Erfindung fand 1980/81 in den Ateliers der ALSTER STUDIOS statt. Fernsehfilme, die man auf 2-Zoll-Magnetband aufgenommen hatte, konnten nur synchronisiert werden, nachdem man sie auf Filmmaterial umgespielt hatte (‘fazen’). Eine kostspielige und zeitraubende Prozedur. Alan Vydra und der technisch äußerst begabte Wolfgang Giese (verstorben im Mai 1999) entwickelten eine Methode, nach der man von 2-Zoll auf U-matic umgespieltes Material synchronisieren konnte. Das ZDF unterstützte diese Entwicklung und gab den auf 2-Zoll produzierten Film „Die Landkarte der neuen Welt“ in Auftrag. Das perfekte Ergebnis führte bald in den Synchronstudios in Hamburg, Berlin und München zur Einführung dieser neuen preiswerten Form der Synchronisation.

Eine Weihnachtspostkarte (mit „Käptn Smid“) aus dem Jahr 1972:
Beispiel14

Mit dem Kauf der Bendestorfer Video-Firma VIDEORING ver- spekulierte sich Vydra jedoch wenig später. Denn dort fehlten plötzlich laut Zeitungsberichten über 1,5 Millionen DM, die beim Kauf noch in der Bilanz angegeben waren. ALSTER STUDIOS: SEX-FILMER GING IN KONKURS, lautete dann auch die Schlagzeile in der BILD-Zeitung am 16. Juni 1982. „Herr Vydra hat sich wahrscheinlich finanziell übernommen“, soll Hajo Breckwoldt, Sohn des Studio- Gründers und selbst noch mit 10.000 DM beteiligt, laut diesem Zeitungsbericht geäußert haben. Die Mai-Gehälter der 30 Mitarbeiter konnten nicht mehr gezahlt werden und auch diverse freie Synchron- Sprecher warteten noch auf Geld aus den Vormonaten.
Vom Amtsgericht wurde ein Konkursverwalter eingesetzt, der den Betrieb zunächst weiterführte. Der Konkursverwalter wollte die Studios wieder zum Laufen bringen und beauftragte Hans-Joachim Wulkow, der damals Betriebsleiter war, den Versuch zu starten, die Firma zu sanieren: „Wir warteten geduldig auf den Lohn, deckten sogar das morsche Dach wieder selbst. Wir hielten zusammen wie eine Großfamilie“, erinnert sich Wulkow. Aber kaum saniert, wurden die Tonateliers an den USMulti CIC (Joint-Venture von Paramount- und Universal- Studios) verkauft, die die Tonateliers für die Synchronisation ihrer Video- und Kinofilme benutzen wollten.
Doch wegen ‘Management-Querelen’ mit den neuen Besitzern verließ Wulkow unfreiwillig nach 42 Jahren die Firma. Mit dem Arbeitsstil der Amerikaner konnte er sich nicht anfreunden und gründete statt dessen in Konkurrenz zu den ALSTER STUDIOS eine eigene Synchronfirma.

Beispiel05

Vorübergehend sorgten Mitte der 80er Jahre die lange erhofften Synchronaufträge von Privatsendern wie RTLplus mit der erfolgreichen US-Action- Serie „Knight Rider“ und dem Krimiklassiker „Columbo“ mit Peter Falk für volle Auftragsbücher und gute Auslastung der Tonateliers. Doch schnell verlor auch die CIC das Interesse an der Firma, zumal der Videomarkt Anfang der 90er Jahre überall in Deutschland einbrach. Im Jahre 1991 wurden die ALSTER STUDIOS vom Münchner Film-Großunternehmer Bernd Gürtler übernommen, der den Synchronbetrieb zunächst unverändert fortführte. Da sich die Situation auf dem Synchronmarkt jedoch auch in der Folgezeit nicht besserte, beschloß die Geschäftsführung, den Betrieb der ALSTER STUDIOS als eigenständige Firma unter dem Dach des Gürtler-Konzerns im September 1994 einzustellen.

Beispiel06
Große Teile der Betriebsanlagen werden jedoch bis heute für die Endfertigung durch die Firma Gürtler und andere Medienfirmen genutzt (u.a. von der CINE- SYNCHRON, die seit zwei Jahren mit angemieteter Technik Filme vertont). Noch immer also arbeiten Synchronsprecher im dörflichen Ohlstedt an Hamburgs Stadtrand, wo die Medien FILM, TON und VIDEO heute an gleichsam historischer Stätte eine Symbiose eingehen.

So wird das Gebäude am Melhopweg 26 mit Sicherheit auch zukünftig an den ehemaligen Standort des traditionsreichen Hamburger Filmunternehmens ALSTER FILM STUDIOS erinnern, wohin Medienkunden und Filmschaffende immer gerne wegen der friedvollen Atmosphäre kommen. (Till Heidenheim und Volker Reißmann)

Ursprünglich war das Gebäude ja ein Gasthof:
Beispiel15

Und hier diese „Werbesingle“ … überreicht bekommen habe ich sie von einem ganz treuen Leser dieses blogs, von Jan Reetze aus den USA.

Und er erinnert sich:

Das Studio existiert nicht mehr, heute ist dort eine Wiese. Der letzte Job, den die hatten, war die Mischung des deutschen Synchron-Tons von Wolfgang Petersens „Das Boot“, danach fiel der Vorhang.

Es bedarf wohl keiner großen Erwähnung, dass mir und damit uns, der Jan Reetze eine Rarität geschenkt hat, die sich gewaschen hat. Ein spannendes und wunderbares Kapitel deutscher Filmgeschichte wird damit aufgeschlagen.

Auf der Seite 1 hören wir die Instrumentalnummer „The Opening Of The Studio 4“, eigens für das 25jährige Jubiläum von einem H.Hausmann komponiert (Prädikat: schmissig mit Soundgags und u.a. im Stil der 60er Jahre Krimi-Filmmusik) und auf Seite 2 erzählt der Firmengründer, Herr Wilhelm Breckwoldt die Geschichte der Alster Studios  …

Die Single wurde mit einem reich bebilderten und sehr informativem Begleitheft (etliche Abbildungen in diesem Beitrag stammen von diesem Begleitheft) ausgeliefert.

Also: Vorhang auf !

BackCover

Besetzung:
Eine kleine Schar unbekannter Studiomusiker
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Wilhelm Breckwoldt (Sprecher)

Titel:
01. The Opening Of The Studio 4 (Hausmann) 6.39
02. Einladung des Senior-Chefs der Alster Studio Wilhelm Breckwoldt 5.53

Labels

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Ein herzliches Dankeschön an Jan Reetze !!!

Olaf Cless & Bastian Fleermann – Wilde Jugend gegen Hitler (Edelweißpiraten in Düsseldorf) (2012)

TitelFür mich ein ungemein wichtiges Kapitel in der Geschichte des III. Reichs:

Als Edelweißpiraten wurden informelle Gruppen deutscher Jugendlicher mit unangepasstem, teilweise oppositionellem Verhalten im Deutschen Reich von 1939 bis 1945 bezeichnet. Nach Kriegsende dauerten in einigen Besatzungszonen die Aktivitäten der Gruppen bis etwa 1947 an.

Die Namensgebung entstammt einer Verballhornung durch Gestapo-Beamte um 1939: Das Edelweiß war eines unter vielen Kennzeichen der nach 1936 verbotenen Bündischen Jugend. Der Namensteil „Piraten“ leitet sich von den Kittelbachpiraten ab, einer offiziell bis 1933 bestehenden rechtsradikalen Gruppe in Düsseldorf, die größtenteils in die Hitlerjugend (HJ) oder die Sturmabteilung (SA) abwanderte. Die Vermengung der Begriffe „Edelweiß“ und „Piraten“, anfänglich ein Schmähwort gegen Jugendliche mit oppositionellem Verhalten, speziell für solche mit Wurzeln in der Bündischen Jugend, in der linksgerichteten Naturfreundejugend oder im kommunistischen Rotfrontkämpferbund, wurde durch die jungen Gruppierungen gegen Ende des Krieges als Selbstbezeichnung gewählt.

Einige dieser Gruppen, wie die Kölner Edelweißgruppe um Gertrud Koch, deren Vater im KZ Esterwegen starb, oder die Ehrenfelder Gruppe um den KZ-Flüchtling Hans Steinbrück, beteiligten sich aktiv am Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Außer dieser Köln-Ehrenfelder Edelweißpiraten-Gruppe, deren Aktivitäten erst nach 1980 durch Jean Jülich ins öffentliche Bewusstsein gebracht wurden, sind beispielsweise die Dortmunder Edelweißpiraten vom „Brüggemannpark“, über die 1980 der Schriftsteller Kurt Piehl publizierte, bekannt geworden.

Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Hoffnungslosigkeit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg brachte für die Jugend Deutschlands massive Probleme mit sich. Während für wirtschaftlich schwächere soziale Schichten kaum Aussicht auf Bildung und Arbeit bestand, wurde von der Oberschicht eine Vision der „Goldenen Zwanziger“ vorgeführt.

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Der Ausweg bestand für viele darin, sich formellen Gruppen anzuschließen, die einerseits ein Programm zur Freizeitstrukturierung anboten und andererseits durch das Erleben von Gruppenzugehörigkeit die Entwicklung von Selbstdefinitionen zuließen. Jugendbünde aus der Tradition der Wandervögel der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg setzten den Schwerpunkt ihrer Aktionen in Wanderungen und Fahrten in das Randgebiet der großen Städte, wo in der Natur am Lagerfeuer mit Wandergitarre und Feldkocher jugendlicher Unabhängigkeitsdrang zelebriert wurde.

Gegen Ende der Weimarer Republik wurde die politische Einflussnahme auf alle Jugendgruppen stärker. Viele Parteien sahen das Herausbilden einer parteitreuen Jugend als essentiell an. So vielfältig die Parteienlandschaft der Republik war, so facettenreich war die Bandbreite der Jugendgruppen.

Neben den Gruppen, die direkt den Parteien unterstanden, den katholischen Gruppen und der den Naturfreunden unterstehenden Naturfreundejugend gab es den breiten Bogen der Bündischen Jugend. Diese etwa 100.000 Jugendlichen, zusammengefasst in 1200 Gruppen, spiegelten die ganze Bandbreite revolutionärer bis bürgerlicher Ideale der zu Ende gehenden Republik wider. Gemeinsam hatten sie Wanderfahrten, formelle Hierarchie und elitäres Bewusstsein.

Aufruf der Wuppertaler Edelweißpiraten zum Widerstand:
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Damit standen die „bündischen“ Merkmale in direkter Konkurrenz zur aufstrebenden Hitlerjugend unter der Führung des ehrgeizigen Baldur von Schirach. Für eine erfolgreiche Ausdehnung der HJ, die von 108.000 Mitgliedern im Jahr 1932 auf 2,3 Millionen im nächsten Jahr anwuchs, war aber auch deutlich, dass die HJ auf die Erfahrungen und die persönliche Beteiligung von Jugendführern der Bündischen Jugend angewiesen war.

Nachdem 1933 der Großdeutsche Bund, eine Zusammenfassung von etwa 70.000 Jugendlichen aus verschiedenen Bündischen Gruppen, und 1936 alle Gruppen der „Bündischen“ verboten waren, setzte die Verfolgung der ehemaligen Mitglieder ein. Regelmäßige Streifen der HJ waren mit Verstärkung von SA und Gestapo zum Einschreiten legitimiert, wenn es einen Verdacht auf so genannte „bündische Umtriebe“ gab. Bis 1938 wurden oft Integrationsangebote von den „Bündischen“ wahrgenommen, da das Image des „jugendlichen Rebellentums“ der HJ noch anhaftete. Freizeitangebote und Aufstiegsmöglichkeiten in der HJ waren durchaus attraktiv. Nach dieser Werbungsphase waren die für Jungvolk, BDM und Hitler-Jugend nicht begeisterungsfähigen Jugendlichen die Hauptfeindbilder des HJ-Streifendiensts. Jugendliche, die sich nach 1936 der Zwangsmitgliedschaft in der HJ entziehen wollten, wurden kriminalisiert. Darunter fanden sich ausgetretene oder ausgeschlossene ehemalige HJ-Mitglieder, Jugendbanden im Stile der „Wilden Cliquen“ der Weimarer Republik, regionale Jugendbanden, illegal weitergepflegte Kontakte zu verbotenen Jugend- oder Naturfreundegruppen und endlich politisch motivierte Widerstandskämpfer.
Regionale Verbreitung und Wirkungskreis

Spätestens ab 1942 kann Köln als Zentrum der Edelweiß-Gruppen, wie die bevorzugte Selbstbezeichnung lautete, mit über 3000 in Gestapo-Akten genannten Namen gelten. In Duisburg, Düsseldorf, Essen und Wuppertal stellte die Gestapo bei Razzien 739 vermeintliche Edelweißpiraten. Der Dortmunder Brügmannplatz wurde spätestens 1943 zum Treffpunkt der lokalen Edelweiß-Gruppe. Reichsweit waren solche Gruppen in den großstädtischen Zentren entstanden.

Typisch für die Namensgebung scheint zu sein, dass die verfolgten Gruppen schnell die Etikettierung ihrer Verfolger annahmen. So wurden angeblich unangepasste Jugendliche in Köln von 1933 bis 1941 von der HJ mit dem Spitznamen „Navajos“ benannt, der von den Verfolgten übernommen wurde. So verstand ein Gefolgschaftsführer der Nachrichten-HJ 1936 unter Navajos:

„[…] solche Personen, die aus der HJ ausgeschlossen sind […] und solche wegen Vergehens gegen § 175. Jede jugendliche Person, die ein bunt kariertes Hemd, sehr kurze Hose, Stiefel mit übergeschlagenen Strümpfen trägt, wird von der HJ als ‚Navajo‘ angesehen.“

Beispiel25

Über das gesamte Reichsgebiet kann die Gegnerschaft zur HJ als verbindendes Element angesehen werden, stärker als die Nachfolgeschaft einer traditionellen verbotenen Jugendgruppe. Die Verhaltensweisen der Bündischen wurden zwar oft angenommen, ohne aber deren Ursprung zu kennen und ohne die typische hierarchische Organisation. Dabei suchten manche Gruppen nach handgreiflichen Auseinandersetzungen mit den Streifen der HJ, wobei auch Straßenkämpfe aufgrund territorialer Ansprüche gegen andere Jugendbanden ausgetragen wurden. Andere Gruppen vermieden jeden Kontakt mit der HJ, insbesondere mit der assistierenden SA.

Das Abhalten von Wanderungen und Fahrten ins Umland der großen Städte und seltener in andere Städte gehörte traditionell zu den freizeitstrukturierenden Aktivitäten der Jugendgruppen. Dabei wurden Lieder aus der Bündischen Jugend gesungen, manche von ihnen dichteten diese oder Lieder der verfeindeten HJ in ironischer Weise um. Teilweise enthielten diese Texte eine derbe regimekritische Aussage, ebenso entstanden neue Lieder, zum Teil mit politischem Inhalt.

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Von den Einheitsuniformen der Hitler-Jugend hoben sich die als Edelweißpiraten bezeichneten Jugendlichen durch einen eigenen Stil – oft Skihemden, Wanderschuhe, Halstuch und kurze Lederhosen – ab. Teilweise war ihr Erkennungszeichen ein Edelweiß unter dem linken Rockaufschlag. Oft wurden Fantasiekluften, Totenkopfringe, mit Nägeln beschlagene Gürtel, Jungenschaftsjacken getragen und die Kohte benutzt. Im Gegensatz zur HJ nahmen sie zum Teil weibliche Jugendliche und Heranwachsende auf.

Je mehr Anzeigen der HJ an die Gestapo eingingen, desto härter wurde die Verfolgung durch Verhaftungen, Verhöre, Folter und Einkerkerungen. Die Gestapo selbst gab zu, dass der Streifendienst der HJ zu einer Verschärfung der Situation geführt hatte. Am 1. Juni 1938 wurden neue Richtlinien für den HJ-Streifendienst erlassen, welche die HJ zum „Einschreiten“ auf „offener Straße“ und in „geschlossenen Räumen“ ermächtigten.

Unmittelbar nach dem Verbot der Bündischen Jugend wurde der § 175 als Tatbestand missbraucht, um eine gerichtliche Verurteilung zu erwirken. Dies rührte aus der historischen Rivalität zwischen HJ und der Bündischen Jugend, deren Mitgliedern pauschal Homosexualität unterstellt wurde. Bald wurde von der NS-Gerichtsbarkeit der Tatbestand der „Bündischen Umtriebe“ geschaffen, der auf breiterer Basis eine Verurteilung von Verdächtigen ermöglichte. Dennoch war die Definition der „Bündischen Umtriebe“ vage und die Entscheidung lag bei den zuständigen Gerichten. Bis Kriegsbeginn führten verhältnismäßig wenige Anzeigen zu einer Verurteilung.

Edelweißpiraten aus Oberhausen:
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Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden speziell ab 1941 radikalere Verfolgungsmethoden angewandt. Razzien, Belauschung, Verleumdung, Aufforderung zum Verrat, Nötigung, Folter und Gefängnishaft wurden eingesetzt, um regimekritischen Gruppen zu begegnen. Im Dezember 1942 kam es im Raum Köln zu einer Verhaftungswelle durch die Gestapo, allem Anschein nach motiviert durch die im Sommer 1942 angelaufenen Flugblattaktionen einzelner Gruppen.

Die Tatbestände der Wehrkraftzersetzung, des Defätismus, der Schwächung der deutschen Volksgemeinschaft, des Widerstands gegen die Gestapo oder des Landes- und Hochverrates hatten drakonische Strafen von Inhaftierung in Konzentrationslagern bis zur Todesstrafe zur Folge. Die Versetzung zu einem Strafbataillon des Heeres oder der Kriegsmarine waren für unangepasste junge Männer ein vom NS-Regime bevorzugtes Mittel zur Ausübung seiner totalitären Macht. Die Einsätze eines solchen Kommandos kamen einer Hinrichtung nahe.

Bruno Bachler, einer der überlebenden Edelweißpiraten, erzählte, wie er nach Verbüßung einer Haft im Konzentrationslager einer Strafkompanie an der Ostfront zugeteilt wurde, die zum Räumen von Minenfeldern benutzt wurde. Das geschah so, dass die Sträflinge Hand in Hand über ein Minenfeld marschieren mussten, wobei einige von ihnen das Leben verloren.

Die Anzahl der ermordeten Edelweißpiraten ist unbekannt. Die Dokumentation über Mitgliedschaft, Aktionen, Verhöre und Hinrichtungen lag fast ausschließlich bei den Tätern des NS-Regimes. Die Jugendlichen führten aus Angst vor Verfolgung nicht Buch über ihre Aktivitäten. Viele der Gruppenmitglieder kannten sich nur mit dem Spitz- oder dem Vornamen, was wieder ein Schutz bei Folter-Verhören war. Die vielfältigen Methoden der Ermordung von Regimegegnern erschweren ebenfalls die lückenlose Erfassung der Opfer. Es ist anzunehmen, dass nur eine Minderheit den Zweiten Weltkrieg überlebte.

Beispiel30

Die Ablehnung der Pflichtmitgliedschaft bei der Hitler-Jugend gilt nach Detlev Peukert durch den gelebten Widerstand gegen das herrschende Regime bereits als eine Form des Jugendwiderstandes. Die Pflege von illegalen Kontakten und Aufrechterhaltung von Beziehungsnetzen, dadurch die Beanspruchung eines eigenen sozialen Raumes kann als Dissidenz und Nonkonformität gesehen werden. Angriffe auf Repräsentanten des Regimes, wozu auch HJ-Funktionäre gehörten, stellen bereits Widerstandshandlungen im engeren Sinn dar.

Politisch motivierter Widerstand war insbesondere das Verstecken und Versorgen von geflohenen Kriegsgefangenen und Juden. Die Edelweißgruppe Steinbrück und die Edelweißgruppe um Gertrud Kühlem (Gertrud Koch) berichten von Flugblattaktionen. Der Inhalt der Flugblätter war im Vergleich zu den Schriften der Weißen Rose eher einsilbig und sehr kurz. Das lag einerseits an mangelnder theoretischer Kompetenz, andererseits an praktischen Überlegungen. Sollte ein Passant ein Flugblatt auf den Stufen des Kölner Domes oder im Hauptbahnhof aufheben, würde er sich aus Angst vor Entdeckung kaum die Zeit nehmen, einen längeren Text zu lesen. Ein Text der Edelweiß-Gruppe um Gertrud Kühlem zu Beginn ihrer Flugblattaktionen im Sommer 1942 lautete etwa:

„Macht endlich Schluss mit der braunen Horde!
Wir kommen um in diesem Elend. Diese Welt ist nicht mehr unsere Welt. Wir müssen kämpfen für eine andere Welt, wir kommen um in diesem Elend.“

Als „Scheißflugblatt“ wurden solche Texte bekannt und stellten eine besondere Provokation für die Gestapo dar.

„So braun wie Scheiße, so braun ist Köln. Wacht endlich auf!“

Mit Schulkreide wurden Parolen an Eisenbahnwaggons und Hauswände geschrieben. Dabei wurden Parolen der Wehrmacht umfunktioniert. Eine solche Parole findet sich in die Mauer eingraviert in einer Gefängniszelle des Kölner EL-DE-Hauses, in dem Mitglieder von Edelweiß-Gruppen inhaftiert, verhört und gefoltert wurden:

„Kinder müssen kommen in den Krieg
Räder müssen rollen für den Sieg
Köpfe müssen rollen nach dem Krieg“

und direkt darunter

„Ihr könnt mich nicht, wenn ich nicht will!“

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Begriff Edelweißpiraten von einigen nationalsozialistisch geprägten Jugendlichen weiter verwendet, die in der sowjetischen Besatzungszone teilweise gewaltsamen und bewaffneten Widerstand gegen die Besatzer leisteten. Die Edelweißpiraten an Rhein und Ruhr existierten noch bis etwa 1947.

Nach der Befreiung ging für viele Edelweißpiraten, vor allem für die aus den Arbeiterkreisen, der Überlebenskampf weiter. Als Gruppen waren und blieben sie aufgelöst, einige behielten so weit wie möglich ihre Vorlieben bei, beispielsweise als Tramps zu reisen. Kaum geändert hatte sich allerdings die personelle Zusammensetzung der Ermittlungsbehörden, in denen oft ehemalige Gestapo-Beamte ihren Dienst versahen, und der Gerichte. Das Verhalten der Edelweißpiraten wurde von den amerikanischen Besatzungsbehörden nicht akzeptiert und führte in zahlreichen Fällen zu erneuten Verurteilungen und Haftstrafen. Betroffene, die eine Entschädigung anstrengten, wurden von der Wiedergutmachungsbehörde mancherorts eingeschüchtert. Jean Jülich berichtet von solchen Versuchen seitens des damaligen zuständigen Dezernenten des Kölner Regierungspräsidenten. Dieser habe ihm angeblich offen zu verstehen gegeben, dass Edelweißpiraten für ihn „Krahde“, also Dreck und Pöbel seien, dessen Züchtigungen durch die Hitler-Jugend er für sinnvoll gehalten habe.

Beispiel31

Seit den 1980er Jahren veröffentlichten einige Edelweißpiraten biografische Texte, die die Ermittlungsprotokolle der Gestapo und der Nachkriegszeit um einen für die historische Forschung wichtigen Blickwinkel ergänzten.

Mit Gertrud Koch verstarb am 20. Juni 2016 das letzte bekannte Mitglied der Edelweißpiraten.

Jean Jülich und Wolfgang Schwarz sowie posthum Barthel Schink, Mitglieder der Kölner Edelweiß-Gruppe, wurden 1984 in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt, weil die Gruppe in den Trümmern Ehrenfelds Juden versteckt und mit (oft gestohlenen) Lebensmitteln versorgt und damit gerettet hatte.

Beispiel32

In Köln-Ehrenfeld erinnert seit dem 9. November 2003 eine Gedenktafel an die im November 1944 dort hingerichteten Edelweißpiraten. Die Tafel ist an den Bögen der Bahnunterführung in der Schönsteinstraße, Nähe Venloer Straße, angebracht – in der Nähe, in der heutigen Bartholomäus-Schink-Straße, hat die Hinrichtung stattgefunden. Die Tafel war schon Jahre vorher fertiggestellt worden, aber auf Druck der Kölner CDU wieder abgenommen worden. Die CDU hatte seit Kriegsende die Anerkennung der Edelweißpiraten als Widerstandskämpfer zu verhindern versucht, teilweise mit Argumenten, die direkt aus Gestapo-Verhörprotokollen zitiert wurden.

„Hier wurden am 25.10.1944 elf vom NS-Regime zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppte Bürger Polens und der UdSSR und am 10.11.1944 dreizehn Deutsche – unter ihnen jugendliche Edelweißpiraten aus Ehrenfeld sowie andere Kämpfer gegen Krieg und Terror – ohne Gerichtsurteil öffentlich durch Gestapo und SS gehenkt.“

Alte Edelweisspiraten singen gemeinsam mit jungen Aktivisten:
Beispiel26

2005 wurden die Kölner Edelweißpiraten offiziell vom damaligen Regierungspräsidenten Jürgen Roters rehabilitiert:

„Die Verwaltungsbehörden behandelten uns zwar als Opfer eines Unrechtregimes, aber nicht als Angehörige des politischen Widerstandes. Auch die Bezirksregierung Köln, die damals für das Bundesentschädigungsgesetz zuständig war, stufte die Edelweiß-Mitglieder nicht als politisch Verfolgte ein. Erst am 16. Juni 2005 wurden wir im Plenarsaal des Kölner Regierungspräsidiums im Rahmen eines Festaktes als Widerstandskämpfer anerkannt.“

Die Aktionen der Edelweißpiraten wurden mittlerweile Gegenstand eines Theaterstückes und des Kinofilms Edelweißpiraten aus dem Jahr 2005. Seit Juni 2005 findet im Kölner Friedenspark ein jährliches Edelweißpiratenfestival statt.

Beispiel27

Vier ehemalige Mitglieder dieser Gruppe wurden 2008 mit der Heine-Büste der Stadt Düsseldorf ausgezeichnet. Die vom Düsseldorfer Freundeskreis Heinrich Heine verliehene Auszeichnung ehrt Gertrud Koch, Jean Jülich, Wolfgang Schwarz und Fritz Theilen für außerordentliche Aktivitäten im Sinne des kritischen und widerständigen Geistes des Dichters Heinrich Heine.

Im April 2011 erhielten die fünf noch lebenden Mitglieder der Edelweißpiraten und der Ehrenfelder Gruppe wegen ihres Engagements als Zeitzeugen aus der Hand von Oberbürgermeister Jürgen Roters das Bundesverdienstkreuz am Bande ausgehändigt: Hans Fricke, Gertrud Koch, Peter Schäfer, Wolfgang Schwarz und Fritz Theilen. Jean Jülich, das bekannteste Mitglied der Kölner Widerstandsgruppen, der bereits 1991 geehrt worden war, war als Ehrengast anwesend. (wikipedia)

Beispiel21

Und anlässlich des  sechsten Edelweißpiratenfestivals im Zakk Düsseldorf (Zentrum für Aktion, Kultur und Kommunikation) im Jahr 2012)  erschien diese Broschüre:

Sie sind unter dem Namen Edelweißpiraten in die Geschichte eingegangen, die jungen Männer und Frauen, die sich im Rheinland dem totalitären Anspruch der Nazis verweigerten. Allein in ihrem bloßen Beharren auf Individualität bestand eine große Gefahr für die Ideologie des Dritten Reichs. Sie wandten sich gegen die „Uniformierung“ der Gesellschaft und bedrohten dadurch die „Deutungshoheit“ des Regimes und vor allem auch der Hitlerjugend. So erklärt es Bastian Fleermann, Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, bei der Vorstellung der 40-seitigen Broschüre „Wilde Jugend gegen Hitler“, die er zusammen mit Olaf Cless herausgegeben hat und die anlässlich des sechsten Edelweißpiratenfestivals im Zakk erscheint.

Beispiel23

Projektleiterin Christine Brinkmann spricht über die Parallelen zu heute: „Natürlich kann man die geschichtlichen Hintergründe nicht vergleichen. Aber auch heute müssen sich Jugendliche zwischen Konformismus und eigener Identität beweisen.“ (Walter Hagena, Rheinische Post)

Und das ist das Anliegen dieser fein illustrierten Broschüre:

Beispiel02

Und hier mal das Inhaltsverzeichnis:

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Selbstverständlich gilt hier meinerseits eine dringende Lese-Empfehlung !

Beispiel01

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Flugblatt aus Wuppertal, um 1942:
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Die Rückseite der Broschüre:
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Die Ehrenfelder Gruppe (auch Steinbrück-Gruppe) war eine im Sommer und Herbst 1944 in Köln aktive Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus, zu deren Mitgliedern und Mitwissern mehr als hundert Personen zählten. In ihr hatten sich um Hans Steinbrück, einen aus dem KZ-Außenlager Köln-Messe geflohenen Häftling, Edelweißpiraten aus dem Arbeiterstadtteil Ehrenfeld, Jugendliche, geflohene Häftlinge und Zwangsarbeiter, Juden und Deserteure zusammengeschlossen. Am 10. November 1944 wurden dreizehn Angehörige der Gruppe, unter ihnen Hans Steinbrück und fünf Jugendliche, ohne Gerichtsurteil von der Gestapo hingerichtet. (wikipedia)

Der jüngste der Opfer war 16 Jahre alt und hieß Barthel Schink (siehe oben).

Wandgraffiti an der Hinrichtungsstätte in Köln-Ehrenfeld:
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Wolfgang Haffner – Kind Of Cool (2015)

FrontCover1Wolfgang Haffner (* 7. Dezember 1965 in Wunsiedel) ist ein deutscher Jazz-Schlagzeuger.

Haffner wuchs als Sohn eines Orgelbauers und einer Kirchenmusikerin auf und erlernte das Schlagzeug- und Klavier-Spielen ab dem Alter von sieben Jahren; unter anderem erhielt er Unterricht bei Evert Fraterman. 1983 war er mit Konstantin Wecker auf Tour. Zwischen 1984 und 1989 war Haffner Mitglied des deutsch-französischen Jazzensembles; später spielte er unter anderem in der Bigband von Peter Herbolzheimer, bei Chaka Khan (1994–1995) und Klaus Doldingers Passport (1989–2000). Des Weiteren spielte er auch in der NDR Bigband und der hr-Bigband Schlagzeug. Daneben ist er Studio- und Livemusiker, zudem komponiert und produziert er für andere Künstler, unter anderem für die isländische Band Mezzoforte auf einigen derer Veröffentlichungen er auch als Schlagzeuger zu hören ist.

Haffner ist im Bereich Jazz und vor allem Funk als Schlagzeuger tätig und begleitete die No Angels auf ihrem Swing-Album When the Angels Swing oder spielte bei Aufnahmen von Nils Landgren und seiner Nils Landgren Funk Unit mit, z. B. auf dem 2004 herausgebrachten Tonträger „funky abba“. 2000 ging er zusammen mit Albert Mangelsdorff, Klaus Doldinger, Manfred Schoof, Wolfgang Dauner und Eberhard Weber als Old Friends auf Tour, seit 2011 war er u. A. mit Till Brönner unterwegs.

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Seine eigene Musik ist Funk. Bei den eigenen Alben und Auftritten spielt er daher häufig mit dem schwedischen Bassisten Magnum Coltrane Price von der Nils Landgren Funk Unit zusammen. Mit einem akustischen Jazztrio aus Lars Danielsson am Bass und Hubert Nuss am Piano nahm er 2008 das Album Shapes auf und gastierte auf der Jazzwoche Burghausen. In dem Jazz-Fusion-Quartett Metro gehört er neben Chuck Loeb und Mitchel Forman zur Stammbesetzung.

Für sein Album Heart of the Matter von 2012 arbeitete Haffner mit Götz Alsmann, Till Brönner, Thomas Quasthoff, Sebastian Studnitzky und Sting-Gitarrist Dominic Miller zusammen. Im November 2014 erhielt er den mit 10.000 € dotierten großen Kulturpreis der Stadt Nürnberg.

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Sein Album Kind of Cool (ACT 2015) kam sowohl als CD als auch auf Vinyl heraus. Zur All-Star-Besetzung gehörten Jan Lundgren, Christopher Dell, Dan Berglund, Dusko Goykovich und Jukka Perko. Bereits vor Erscheinen gab der Bandleader bundesweit Konzerte mit dem Material des Albums.

Der Name des Kind-of-Spain-Albums erklärt sich daraus, dass der Musiker auf der spanischen Insel Ibiza seinen Hauptwohnsitz hatte, bevor er kürzlich nach Deutschland zurückzog. Die CD 4 Wheel Drive, die er gemeinsam mit Nils Landgren, Michael Wollny und Lars Danielsson verantwortete, kam 2019 auf Platz 1 der Media Control Jazz-Jahrescharts und gilt somit als bestverkauftes Jazzalbum des Jahres in Deutschland. (wikipedia)

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Auf „Kind of Cool“ bewegt sich Wolfgang Haffner zwischen Tradition und Moderne – mit einem Blick auf den Cool Jazz und das Great American Songbook: In der Tradition des legendären Modern Jazz Quartet und mit dem Spirit des Cool erklingen Jazz-Klassiker zeitlos schön. Ungemein relaxed, sophisticated, auf sich selbst vertrauend, schlussendlich besonders. Drei Eigenkompositionen runden das Album ab. Es braucht schon eine veritable Allstar-Band, um Musik so klingen zu lassen wie sie auf „Kind of Cool“ zu hören ist: Internationale Jazzstars, die sich nichts mehr beweisen müssen, die einfach Spaß und Muße daran haben, die Stücke so klingen zu lassen, was sie sind: Einige der schönsten Kompositionen, die die Musik des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat. (Pressetext)

James Dean und Marlon Brando waren die schillernden Leinwandhelden der 50er Jahre. Charakterdarsteller, Sexsymbole, lässige Exzentriker mit Hang zur Extravaganz. Vorbilder für die aufbegehrende Jugend: Der Inbegriff des Coolen. Ein neues Lebensgefühl machte sich in den im Wandel begriffenen USA breit. The Birth of the Cool passierte parallel auch im Jazz und wurde damit zum Soundtrack einer Generation. Miles Davis, John Lewis und das Modern Jazz Quartet, Dave Brubeck und auch Chet Baker (der „James Dean des Jazz“) gaben dem Jazz eine neue Richtung vor: Die Suche nach einer speziellen „coolen“ Atmosphäre, nach (Klang-)Farben und Raum im Jazz, basierend auf substanziellen Melodien, mit einer relaxten auf das Kollektiv abzielende Spielhaltung prägte die Musik. „Kühl“ aber war diese Musik nie, eher mit „kühlem Kopf“ erdacht und gespielt.

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Und genau dieses Feeling und Musikverständnis spricht auch Wolfgang Haffner aus dem Herzen und treibt seine Musik an. Produzent Siggi Loch lief also bei ihm offene Türen ein, als er ihm vorschlug, mit „Kind of Cool“ eine alte Lesart neu zu interpretieren und damit an die Ursprünge der Coolness im Jazz zu erinnern: „Meine erste Jazzplatte war ein Geschenk und zwar ‚Dave Brubeck live in Carnegie Hall‘. Ich habe mir dann gleich auch die Jazz Messengers und das Modern Jazz Quartet gekauft. Damit fing die Beschäftigung mit dem Jazz bei mir überhaupt erst an“, erinnert sich Haffner. Auch wenn der mit dem ECHO Jazz ausgezeichnete Schlagzeuger und mittlerweile einer von Deutschlands erfolgreichsten Jazz-Bandleadern seither mit der Crème de la Crème der internationalen Musikszene in nahezu allen Stilen bis hin zu Rock und Pop gespielt hat und an gut 400 Alben beteiligt war, so sind doch die Helden des Modern Jazz zwischen 1950 und 1960 sein Urgrund. „Ich würde mich selbst nicht als Cool-, oder Swing- oder Bebop-Drummer bezeichnen“, sagt Haffner. „Ich versuche, das jeweils Wesentliche zu finden. Aber die Time, die Melodik und die kompositorischen Konstruktionen des Cool, das ist meiner Musik wesensverwandt. Der Sound im Mittelpunkt, worum es mir auch immer geht.“

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Drei Eckpfeiler bestimmen „Kind of Cool“: Erstens mussten Stücke vorkommen, die den Sound des Cool Jazz transportieren: „So What“ zum Beispiel, der Opener von “Kind of Blue”. Und „Django“, die vielleicht bekannteste Komposition von John Lewis, gleich für das erste Album seines Modern Jazz Quartet. Als zweites wurden stilübergreifende Standards ausgewählt, die sich für eine „coole“ Interpretation anboten. Die logischste Wahl war „Autumn Leaves“, das durch die Versionen von Cannonball Adderley mit Miles Davis 1958 und von Bill Evans von 1959 im Jazz berühmt wurde. Auch die Broadway-Ballade „My Funny Valentine“ aus dem Jahr 1937 wurde durch die Einspielungen von Chet Baker und Miles Davis zu einem Standard des Modern Jazz. Und als eine der „coolsten“ Nummern des Kansas-City Sounds von Count Basie kann Billy Eckstines „Piano Man“ gelten, den die beiden 1959 einspielten. Als drittes schließlich steuerte Wolfgang Haffner drei eigene Kompositionen bei, die dieses Programm abrunden.

„Wenn man das wie damals nachzuspielen versucht, kann man nur verlieren“, erläutert Haffner. „Keiner braucht ein zweites ‚Kind of Blue‘. Der Clou von „Kind of Cool“ ist, die für ihren „coolen“ Ausdruck berühmt berüchtigten Koryphäen mit ihrer jeweils anderen Charakteristik zu konfrontieren und auf einen modernen Nenner zu bringen: Davis‘ „So What“ etwa wird durch das Vibrafon in die Klangfärbung des Modern Jazz Quartet getaucht, umgekehrt erhält das strenge Quartettstück „Django“ hier nun die Dynamik und den ätherischen Glanz der Bläser. Die meist opulent mit Dynamik und verschiedenen Sounds und Rhythmen arbeitenden Kompositionen des großen Melodikers Haffner erscheinen hier nun in einem nüchternen, klassischen Licht. „Kind of Cool“ ist vom typischen Haffner-Feel durchdrungen, das die Musik organisch und natürlich fließen lässt.

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Eine veritable All-Star-Band steht Haffner für „Kind of Cool“ zur Seite. Kaum ein anderer hätte das Anforderungsprofil besser erfüllen können als Dusko Goykovich. Der mittlerweile 83-jährige und mit dem ECHO Jazz für sein Lebenswerk ausgezeichnete Trompeter hat mit den Vätern des Cool und Modern Jazz wie Miles Davis, Art Blakey oder Chet Baker noch selbst gespielt. Als ideal für das Unternehmen darf man auch den Pianisten Jan Lundgren bezeichnen, dank seiner profunden Kenntnisse des Great American Songbook wie der Klassik; aber auch dank seines klaren Anschlags, seinen intelligenten Phrasierungen und seines außergewöhnlichen Timings. Eine besondere Rolle kommt bei „Kind of Cool“ dem Vibrafon zu, war es doch unter den Mallets von Milt Jackson eine prägende Farbe des Modern Jazz Quartet. Christopher Dell, der virtuose, avantgardistische Alleskönner unter den Vibrafonisten meistert die Aufgabe mit Bravour. Sozusagen in die Rolle von Paul Desmond schlüpft der finnische Saxofonist Jukka Perko. e.s.t.-Bassist Dan Berglund sorgt neben Haffner für den entspannten Groove.

Max Mutzke

Den für „Piano Man“ erwünschten Gesangspart übernimmt mit Max Mutzke ein wahrer Soulman: „Er hat das Stück überhaupt nicht gekannt, aber am Ende nahmen wir den ersten Take, der war aus dem Stand perfekt“, erzählt Haffner. (jazz-fun.de)

Oder: Solange es solche Musiker und Alben gibt, btaucht mansich um den deutschen Jazz wahrlich keine Sorgen machen !

BackCover1

Besetzung:
Dan Berglund (drums)
Christopher Dell (vibraphone)
Dusko Goykovich (trumpet)
Wolfgang Haffner (drums)
Jan Lundgren (piano)
Jukka Perko (saxophone)
+
Frank Chastenier (piano bei 03.)
Christian von Kaphengst (bass bei 03.)
Nils Landgren (trombone bei 08.)
Max Mutzke (vocals bei 03.)

Wolfgang Haffner

Titel:
01. Hippie (Haffner) 5.37
02. So What (Davis) 7.19
03. Piano Man (Eckstine/Kuller) 5.04
04. Autumn Leaves (Enoch/Kosma) 4.01
05. Tantricity (Haffner) 3.18
06. Summertime (Gershwin) 5.21
07. My Funny Valentine (Hart/Rodgers) 6.58
08. One For Daddy O (Adderley) 6.28
09. I Fall In Love Too Easily (Styne/Cahn) 5.54
10. Django (Lewis) 5.00
11. Remembrance (Haffner) 4.57

CD1

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Between – Dharana (1974)

LPFrontCover1Ein ganz und gar bemerkenswertes Projekt der frühen 70er Jahre, aus jenen Jahren, in denen Räucherstäbchen in gewissen Kreisen üblich war … und genau dazu passte dann auch die Musik von etween:

Between war eine Instrumentalgruppe in den 1970er Jahren, die sich zwischen Minimal Music, Ethno-Jazz und Weltmusik ansiedelte. Die Gruppe war zunächst als Improvisationsgruppe für Kammermusik konzipiert, spielte aber bereits bei den ersten Plattenveröffentlichungen überwiegend ein festes Repertoire.

Ende der 1960er Jahre begegneten sich in München improvisierende Musiker aus verschiedensten Sparten und spielten „Musik zwischen den Welten“, zwischen Avantgarde, Elektronik, Folklore, Mittelalter, Stegreifspiel und Samba. Between bestand 1970 im Kern aus den beiden jungen Münchner Komponisten Peter Michael Hamel und Ulrich Stranz, dem seit 1966 in München lebenden argentinischen Gitarristen und Instrumentenbauer Roberto Détrée und dem gebürtigen New Yorker Robert Eliscu, zu jener Zeit Solo-Oboist der Münchner Philharmoniker.

Hinzu kamen 1971 die beiden amerikanischen Perkussionisten Cotch Blackmon und Charles Campbell, der Flötist James Galway aus Irland, damals Soloflötist der Berliner Philharmoniker, und anlässlich der ersten Aufnahmen der Tonmeister Ulrich Kraus. Von 1973 an setzten weitere Musiker aus aller Welt ihre Akzente bei Between: Tom van der Geld (Vibraphon) und Roger Jannotta (Holzblasinstrumente), beide aus den USA, Gary Lynn Todd aus USA (Kontrabass), Jeffrey Biddeau aus Trinidad (Congas), Pandit Sankha Chatterjee aus Kalkutta (Tabla) sowie als Gäste Walter Bachauer (Elektronik), Peter Müller-Pannke (Tanpura und Sarangi), Duru Omson (Bambusflöte, Perkussion), Al Gromer Khan (Sitar), der amerikanische Jazz-Saxophonist Bobby Jones und der damalige Münchner Domorganist Franz Lehrndorfer.

Between01

Between verband …

… „Einflüsse experimenteller, klassischer und mittelalterlicher Musik mit außereuropäischen Elementen vor allem aus Lateinamerika und Asien. […] Da entsteht wirklich Musik ‚between‘: Und das heißt hier allemal: es wird differenzierter, klischeedurchbrechender Musik gemacht als anderswo in diesem Genre. (Wolfgang Burde)“

… „Stilübergreifend, aus verschiedensten Kulturen schöpfend, entstehen mal fernöstlich inspirierte Klänge, leicht und transparent wie Seidenpapier, dann hört man altvertraute volksliedhafte Melodien, dann plötzlich einen swingenden Charleston. So […] geht es diesen Musikern nicht um Abgrenzungen, sondern um Verbindung, Verständigung, Vertrauen. (Bernd Kammerer) (wikipedia)

Peter Michael Hamel01

Eigentlich wollten wir unser Projekt B.A.C.H. nennen“, erinnert sich Peter Michael Hamel an das Jahr 1970, als es darum ging, einen möglichst ungewöhnlichen Namen für eine äußerst ungewöhnliche Formation zu finden. „Natürlich trafen wir diese Wahl ein bißchen in Anlehnung an den unsterblichen Barock-Komponisten gleichen Namens, vor allem aber standen diese vier Buchstaben für „Between All Chairs“, zu Deutsch: „Zwischen allen Stühlen“. Denn genauso empfanden wir unsere Musik. Doch als wir feststellten, daß dieses Idiom im Englischen gar nicht existiert, ließen wir es bleiben.“

Robert Eliscu01

Übrig geblieben ist der Begriff „Between“, auf den sich die vier Gründungsmitglieder der Gruppe schließlich als Bandnamen einigten. Und auch dieser abgespeckte Begriff sagt jede Menge aus über das Selbstverständnis jenes so originär-originellen Projekts: „Wir empfanden unsere Musik immer als ein „Dazwischen“, etwas Vergleichbares hatte es zuvor nicht gegeben.. Vor allem steckte unser Sound zwischen den Kategorien E- und U-Musik. Man konnte uns niemals auf irgendeine Kategorie festnageln. Damit bin ich bis heute zufrieden!“, so Hamel. (Wergo)

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Und hier ihr drittes Album (das zweite, das auf dem renommierten UK Label Vertifo erschienen ist !):

Dharana ist ein Sanskritwort, welches Konzentration bedeutet. Mit dem Begriff wird im Raja Yoga eine Art von Meditationsübung bezeichnet, in der durch intensive, äußerst konzentrierte Fokussierung auf etwas Bestimmtes (ein Gefühl, ein Körperteil, ein Mantra … was auch immer) das selbständige Denken ausgeschaltet und eine ganzheitliche, allumfassende Geisteserfahrung ermöglicht werden soll. Dieses „Dharana“ wählten Between als Titel für ihr drittes Album, welches den von der Münchner Gruppe mit „And The Waters Opened“ eingeschlagenen Weg in modale, asiatisch-exotische Musikwelten fortsetzt.

Sehr „indisch“ klingt dieses Album über weite Strecken, bietet rhythmische, von der Handperkussion bestimmte Nummern, hypnotisch und dicht dahin gleitend, melodisch geprägt von der Oboe. Wie ein Tempeltanz wirkt das einleitende „Joy … Sadness … Joy“, ein recht flottes Stück, bestimmt von E-Orgel, Oboe, Perkussion und Bass. „Om Namo Buddhaya“ ist dann das kontemplative Gegenteil dazu, ein getragener Tempelgesang, vorgetragen von Tambura, Flöte, Stimme und elektronischem Hintergrundbrummen. Die Nummer sollte auch auf den beiden nächsten Between-Scheiben wieder auftauchen. „Sunset“ klingt dann weniger indisch. Hier ist Robert Détrée solistisch an der Akustikgitarre zu Gange. Der Argentinier verwendet hier eine pentatonische Tonleiter, was dem Stück eher einen japanischen Charakter verleiht. Jubilierende Pfeifenorgelklänge bestimmen „Listen to the Light“, zu denen wieder die Oboe erklingt. Das Stück ist ein sehr helles Klanggemälde, welches klar wie ein Gebirgsbach aus den Boxen plätschert.

Kern und Höhepunkt des Albums ist das Titelstück. „Dharana“ ist eine gut 20-minütige Komposition für Orchester, Elektronik und Band. Im Zentrum der Musik steht einmal mehr Eliscu an der Oboe, dessen Instrument sich über einem dichten Gefüge aus Perkussion, Bass und Tasten erhebt. Dazu singt Hamel eine Zeile aus dem Sutra „Dharanasu cha yogyata manasah“. Die Übersetzung ist im Beiheft des CD-Reissues zu finden: „Der Geist wird durch Konzentration befreit für die Vereinigung mit dem Allerhöchsten“. Streicher- und Bläserklänge sorgen immer wieder im langen Stück für untermalende Klangfülle. Gegen Ende setzt zudem ein Synthesizer ein und sorgt begleitet von den tiefen Streichern für brummende Klangdichte und verhalten dahin plätschernde „Wasserklänge“. „Dharana“ ist ein sehr intensives, symphonisches Klangkonglomerat, welches auf gelungene Weise Orchester, Exotik, „Rockband“ und Elektronik zu einem Ganzen vereint.

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Auf dem CD-Reissue von „Dharana“ ist als Bonus das etwas über 17-minütige „The Voice of Silence“ zu finden. Bei diesem handelt es sich um das Titelstück von Peter Michael Hamels zweiter LP aus dem Jahre 1973, allerdings in einer neu abgemischten Version. Diese wurde ursprünglich im 1981 uraufgeführten Stück „Merlin“ von Tankred Dorst als Bühnenmusik verwendet. Diese repetitiv-monolithische Musik – Hamel ist hier alleine an der Pfeifengenorgel zu hören und singt – passt aber sehr gut in das Konzept dieses Albums, treibt sie doch das konzentrierte Fokussieren auf wenige Klangmuster geradezu auf die Spitze.

Seltsame, doch seltsam eindringliche und ergreifende Musik bietet dieses Album. Wer einmal etwas anderes aus Deutschen Landen hören möchte, und etwas mit exotischen, kammermusikalisch-rockig-jazzigen Klängen anfangen kann, der sollte hier einmal reinhören! (Achim Breiling)

Ganz sicher darf man diesem Album das Prädikat „zeitlos“ verleihen !

LPBackCover1

Besetzung:
Cotch Black (percussion)
Charles Campbell (percussion)
Roberto Détrée (guitar, bass)
Robert Eliscu (oboe, recorder)
Peter Michael Hamel (keyboards, vocals)
+
WAlter „Anatol Arkus“ Bachauer (electronics bei 02. + 05.)
Aparna Chakravarti (tambura bei 02.)
+
Südwestfunk Orchestra unter der Leitung von Ernest Bour (bei 05.)

LPBooklet

Titel:
01. Joy … Sadness … Joy (Eliscu) 11.10
02. Om Namo Buddhaya (Hamel) 2.37
03. Sunset (Atardaceres) (Détrée) 3.04
04. Listen To The Light (Eliscu) 6.24
05. Dharana (Third Version) (Hamel) 21.49
+
06. The Voice Of Silence (Hamel) 17.30

LabelB1

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Mehr von Between:
OriginalFrontCover1  FrontCover1

Station 17 – Station 17 (1990)

FrontCover1Eine ganz und gar außergewöhnliche Band: Station 17 !

Station 17 ist eine Musikband aus Hamburg. Sie besteht aus behinderten und nicht behinderten Musikern und wurde 1988 von Bewohnern der Wohngruppe 17 der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, professionellen Musikern und von Kai Boysen gegründet, um im Rahmen eines Projektes nur ein Album aufzunehmen.

1989 unterstützte die Phonogram die Band. Infolgedessen kam es zur Zusammenarbeit mit diversen Produzenten wie Holger Czukay, FM Einheit, Thomas Fehlmann, DJ Koze und Cosmic DJ. (Quelle: wikipedia)

Oder aber auch:

Die Entdeckung akustischer Kleinodien, die Menschen mit geistiger Behinderung von sich geben oder mit ihrem Körper produzieren können, führte zur Gründung der Band „Station 17“. Benannt nach der Wohngruppe 17 des Karl-Witte-Hauses, auf dem Gelände der Stiftung Alsterdorf in Hamburg gelegen. 1991 gibt Station 17 ihre erste CD heraus, auf der die Alsterdorfer als Sänger oder Musiker spielen. Das Medienecho ist groß und Station 17 wird zur gefragten Band mit Handicap, die im professionellen Musikbusiness spielt.

Und hier ihr Debutalbum aus dem Jahre 1990:

Station 17 – ein ungewönliches Projekt. Traditionelle Hörgewohnheiten werden quer gebürstet. Vertraute, eingängige Klänge sind aufgemischt mit schrillen und schroffen Tönen, mit sinnigem und irrsinnigem Witz. (Georg Schnitzler, Pressesprecher Ev. Stiftung Alsterdorf; 28.11.1990)

Station17

Für mich ist das Entscheidene an Station 17 gar nicht so sehr die Zusammenarbeit mit Behinderten, sondern vielmehr die Erkenntnis, daß in allen Menschen kreatives Potenial steckt und daß man mit etwas Hilfe wunderbare Dinge zutage gefördert werden können. Behinderte Menschen sind genauso normal oder anormal wie andere Menschen auch – sie haben vielleicht weniger emotionale Hemmungen, sind offener, aber auch verletzlicher. Sehr intensive, sehr ehrliche Kontakte können entstehen, wenn man sich ebenso offen zeigt. Für die meisten war die Arbeit das erste eigene krative Werk. Wichtiger als das Ergebnis aber war der Weg dahin. Ich denke, daß wir Musiker und Produzenten dieser Platte mit dem angebrachten Feingefühl und der nötigen Zurückhaltung an die Arbeit gegangen sind und alle Titel den Charakter behielten, den die Interpreten ihnen zu gedacht hatten. Diese Platte sollte inspirieren und möglichst viele Leute dazu ansporen, die Augen und Ohren aufzumachen.. (Stefan Walter, Musiker und Produzent; 22.11.1990)

Tja, musikalisch schallt einem eine Form von experiementeller Avantgardemusik entgegen, ganz sicher gewöhnungsbedürftig und ganz sicher auch nicht die Musik, die mich vom Hocker reißt … aber dennoch: sehr interessant.

Bei der Produktion dieser CD haben dann u.a. Die Toten Hosen, Michael Rother, Holger Czukay und viele weitere klanghaften Namen der deutschen Musikszene mitgewirkt.

Booklet01A

Besetzung:
Kai Boysen (guitar bei 12.)
Andreas Brüggmann (horns bei 09.)
Dierk Eggers (keyboards bei 03.)
Wolfgang Ehlers (vocals bei 05.)
Thomas Fehlmann (all instruments)
Markus Grosskopf (guitar, bass bei 02.)
Uwe Haar (keyboards bei 09.)
Kai Hansen (guitar, bei 02.)
Thomas Hipolith (vocals bei 01.)
Werner Hoffmann (keyboards, vocals bei 04.)
Peter Horn (saxophone bei 04.)
Gisbert Kellersmann (bass bei 12.)
Wolfgang Kiebach (vocals bei 09. 12.)
Ulf Krueger (all instruments)
Harre Kühnast (drums bei 12.)
Manfred Müller (vocals bei 03.)
Michael Rother (all instruments)
Michael Roy (vocals bei 1o.)
Michael Schlapkohl (vocals, guitar bei 07. + 12.)
Stefan Walther (keyboards, guitar bei 03., 05., 09. + 12.)
Hans Jürgen Witt (keyboards, vocals, guitar bei bei 06. + 12.)
Wigbert Zelfel (saxophone bei 04.)

BookletBackCover1

Titel:
01. Knackawurst (Hipolith) 3.24
02. Autofahn (Grimm) 4.13
03. Max (Müller) 3.33
04. I Fly (Hoffmann) 3.20
05. Wolln wir Peter auch mitnehm (Ehlers) 4.47
06. Hannes (Witt) 3.36
07. Hei Hosen (Schlapkohl) 3.30
08. Los jezz (Kiebach) 4.02
09. Pata Patao (Haar) 4.12
10. Hähohah (Roy) 1.12
11. Morning Sun (Hoffmann) 5.10
12. Feeger (Station 17) 4.58

CD1

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