Jens Kegel – Leben in Ost-Berlin – Alltag in Bildern 1945 bis 1990 (2013)

TitelUnd hier mal ein prachtvolles Buch über die „schönen Seiten“ von Ost-Berlin, zusammengestellt von Jens Kegel,  aus den Archiven der Bildagentur „Picture Alliance“

Fotos werden heutzutage in Megabyte berechnet. Jedes gute Handy hat dafür einen ordentlichen Speicherplatz, Schnappschüsse können kurzerhand auf Facebook hochgeladen werden. Für Freunde und die Weltöffentlichkeit. Die Menschen wollten schon immer ihr Dasein dokumentieren, und möglichst nur die schönen Seiten von sich zeigen.

Davon zehren auch neuere Fotobände über die längst verblichene DDR. Der prächtige Band „Leben in Ost-Berlin“ von Jens Kegel zeigt 1000 Bilder aus Archiven führender Bildagenturen. Auf gut 460 Seiten geht es um den Wiederaufbau, um Konsum, Wohnen, Erziehung, politisches Leben, Freizeit und natürlich um die Wendeereignisse.

Was zuerst auffällt: Kinder sehen überall niedlich aus. Und die Menschen auf der Straße wie die Prominenten trugen schon immer altmodische Kleidung und seltsame Frisuren, auch in der DDR. Außerdem bleibt festzuhalten: Viele Bauwerke haben sich kaum verändert, das Brandenburger Tor sah eigentlich immer so aus wie heute. Der Fotoband zeigt die schönen Seiten der „Hauptstadt der DDR“ und gibt doch eine Ahnung davon, warum der Staat untergehen musste.

Denn gleich hinter dieser Hochglanzfolie verbergen sich viele Erinnerungen, viele Wahrheiten. Sie sind schön und hässlich, kollektiv wie intim. In vielen Berliner Familien wurde nie darüber gesprochen, wie sich die Trümmerfrauen fühlten, die jeden Nachkriegsbildband einleiten. Auf den Fotos wirken die Frauen so stolz, so aktiv. Dabei waren entweder ihre Männer gefallen oder kriegstraumatisiert. Sie, die Frauen, Freiwild der russischen Besatzer. Nicht wenige nahmen sich deshalb das Leben, dazu kamen Hunger, Krankheit, Kälte.

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Die kleine heile Welt Ost-Berlins gründete sich auch auf seelischen Trümmern und dem Wunsch, künftig alles besser zu machen, weder Täter noch Opfer zu sein und Schmerzen zu kompensieren. Eben ein Stück vom neuen Glück zu erhaschen. Viele Fotos zeugen davon. Sie führen gern private wie berufliche Erfolge vor und offenbaren den ungeheuren Willen zu konsumieren. Gerade auch die Unfähigkeit des politischen Systems, die Menschen mit Konsumgütern zu versorgen, hat mit zum Untergang geführt.

Es klingt heute wie ein Witz, dass man 12 oder 13 Jahre auf die Zuteilung eines Autos aus Pappe warten musste. Die DDR war vier Jahrzehnte lang eine Mangelwirtschaft. Nach heutigen Vorstellungen gab es damals zwei große Lebensmittelketten: Den Konsum und die HO (Handelsorganisation), die beide kaum die Fehlplanungen verheimlichen konnten. Das HO-Schaufenster zeigt um 1980 aufgeschichtete Konservendosen und Teigwaren. Dahinter herrscht gähnende Leere im Laden.

Das Politische wirkt auf den Fotos dagegen oft wie eine Fassade, hinter der sich der Einzelne einzurichten versuchte. Der nach der Wiedervereinigung lange Jahre umstrittene Palast der Republik, inzwischen abgerissen und hoffentlich bald durch das Stadtschloss ersetzt, ist ein einzigartiges Beispiel für die unterschiedliche Ost-West-Beispiel18Wahrnehmung von Symbolbauten. Kurz nach seiner Eröffnung 1976 stürmten die Leute aus Ost-Berlin und der so genannten Republik den neuen Prachtbau. Was es nicht alles zu sehen gab? Gemälde der angesagten DDR-Künstler hingen in den Wandelhallen, riesige Unterhaltungsshows wurden im modernen Saal gezeigt, ein kleines Theater unterm Dach deuchte sich intellektuell, für junge Leute wurde eine Diskothek – für viele Provinzler unfassbar – mit drehbarer Tanzfläche eingebaut.

Natürlich wurde auch über Erichs Lampenladen gespottet oder über den – wie es auf Sächsisch klang – Ballast der Republik. Baumaterialien waren im Lande ebenso rar, viele meinten, man hätte es besser für den Wohnungsbau verwenden sollen als für den Berliner Protzbau. Dass in jenem Palast auch die DDR-Volkskammer ihre politische Macht vorführte, wurde von vielen gar nicht realisiert. Der Teil gehörte zur geschlossenen Gesellschaft. Im Westen Berlins wurde dagegen zuerst die politische Funktion des Hauses wahrgenommen, nicht der Unterhaltungsteil, in dem sich viele größer fühlen konnten. Der Widerspruch erklärt die kontrovers geführte Diskussion im Berlin der Neunzigerjahre.

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Stolz schieben die Muttis ihre Kinderwagen im Neubauviertel: Das Drumherum wirkt auf dem Bild noch unfertig, es ist Mitte der Sechzigerjahre. Eine neue Generation war inzwischen herangewachsen. Der sozialistische Mensch sollte nicht mehr in feudalen oder bürgerlichen Wohnungen leben, sondern bekam als so genannter Mensch neuen Typus auch neue Lebenswelten zugewiesen. Es wurde kaum saniert, sondern neu gebaut. Während die alten Kieze im Zentrum weiter vergammelten, entstanden riesige Wohnsiedlungen an der Peripherie. Es war nicht nur eine Frage der Baukosten, sondern auch der Ideologie.

Die unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion gehörte ebenfalls zur Ideologie. Das Bild mit dem süßen Kind, das an einer Reihe von Soldaten der Roten Armee entlang läuft, kann eigentlich nur gestellt sein. Es entstand fünf Jahre nach dem Mauerbau. Das sowjetische Ehrenmal am Treptower Park gehörte eher zu den Pflichtveranstaltungen für Ost-Berliner. Die russischen Militärs waren immer ein Fremdkörper, ebenso eindrucksvoll wie unheimlich. Das Image der Russen hat sich in Berlin seit der Wiedervereinigung zweifellos verbessert, ist persönlicher geworden. Und die Diktatur der Mehrheit über eine Minderheit, so eine DDR-Selbstdefinition, hat sich 1990 verabschiedet. (Volker Blech, Morgenpost)

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Oder aber auch:

Ein Fotoband über den Alltag im sozialistischen Ost-Berlin

Für viele sind Narva-Glühlampen, der Kulturpark Plänterwald, HO und FDJ-Fanfarenzug unvergessen. Ein dickleibiger Fotoband dokumentiert den Alltag im sozialistischen Ost-Berlin.

Irgendwie ist ja alles schon mal da gewesen. Auf Seite 119 stoßen wir auf ein Foto mit einer Baustelle. Die große Grube ist ausgehoben, im Hintergrund hockt der Berliner Dom, links daneben würdevoll das Alte Museum. Das Bild entstand 1973: ein Blick auf die Baustelle des Palasts der Republik. Heute könnte man die gleiche Szenerie ablichten: Tiefbau für ein Schloss als neuerlichen Protzbau in Berlins Mitte. Wie sich die Bilder gleichen!

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In den vergangenen 40 Jahren ist in Berlin viel passiert, es gab eine kleine Revolution, die die Stadt radikal veränderte, vor allem den Ost-Teil. Der war 41 Jahre lang die Hauptstadt eines seit 1990 verschwundenen Staates. Doch vieles, was sich bis zum Mauerfall in diesem Teil Berlins ereignete, im sogenannten Demokratischen oder Russischen oder Sowjetischen oder Ost-Sektor, also der Hauptstadt der DDR, ist allen Beteiligten noch ziemlich geläufig. Es bedarf nur mehr einschlägiger Witze, Erzählungen, eigener Erinnerungen oder unvergilbter Fotos, damit es klingklangklong macht: Weißt du noch? Das hat nichts mit Nostalgie zu tun, sondern mit einem kurzen Blick zurück beim Spazieren auf neuen Wegen. Da fragt man sich doch manchmal: Wo kommen wir her? Was haben wir erlebt? Was war schön, was nicht?

So ähnlich glüht die Erinnerung beim Blättern in dem kiloschweren Wälzer, der jetzt von dem neuen Elsengold-Verlag (Elsengold = Goldelse!) in die Buchhandlungen kommt: Die Fülle des Materials (über 1000 Bilder) ist so aufbereitet, dass auch alle anderen Deutschen, die nicht mit ihrer Hausgemeinschaft bei Rotkäppchen-Sekt auf Ost-Berliner Balkons saßen, etwas davon haben – einen Blick in dieses seltsame Land, das nicht Deutschland sein sollte, aber doch immer irgendwie blieb. Die Fotos sind keine zusammengewürfelten Amateurknipsereien, sondern zumeist Produkte von Profis, teils bislang unveröffentlichte Dokumente dafür, dass sich der gute Fotoreporter auch in der DDR den Blick für das besondere Detail und den gewissen Moment bewahrt hat. Picture Alliance, der Herausgeber, ist eine Tochter der Deutschen Presseagentur und hat ein Archiv mit fast 30 Millionen Grafiken, Videos und Fotos, darunter jenen von „Zentralbild“, der Bildagentur der DDR. Im Mittelpunkt der acht Kapitel stehen die Ost-Berliner: ihr Aufbauwerk, Kunst, Arbeit, Freizeit und Politik. Wie in einem privaten Album entblättert sich das Leben. Das geht manchmal wild und beliebig durcheinander, Stichworte illustrieren den fotografierten Sachverhalt, auf S. 173 zum Beispiel „Kinder auf einem Spielplatz“, „Vorlesen“ (Mann mit Kind und Buch), „Kunstunterricht“ oder „Jugendweihe“. Es wird viel gelächelt, gesungen und getanzt, „unsere Menschen“ sind ganz schön auf Zack – der Publizist Jens Kegel schreibt, warum und wieso es nicht ganz so rosig war, wie es scheint.

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Es beginnt mit der Stunde null: Wie unsere Eltern, vor allem die Mütter, den Trümmerhaufen Berlin, diese „Radierung Churchills nach einer Idee Hitlers“ (Brecht), beiseitegeräumt haben. Diese Stadt hat nie resigniert. Sie hat aus Niederlagen Kraft bezogen. Gegen die Mauer kam freilich nur die freche Berliner Lästerzunge an, mehr nicht. Das Leben ging seinen sozialistischen Gang – bis die abgebauten Mauerteile auf der Straße lagen und das große Schreddern kam.

Mit diesem letzten Bild endet das Kompendium, ein Bilder- und ein Märchenbuch, von allem etwas, ein Kessel Buntes aus dem Fotoalbum des DDR-Lebens. Und ein Beleg dafür, was Berlin abhandengekommen ist: der Kulturpark Plänterwald, Narva-Glühlampen, das Sport- und Erholungszentrum, VEB Treffmodelle, HO, Kisch-Café Unter den Linden, Nante-Eck, Tanztee im Lindencorso, Granit-Lenin, FDJ-Fanfarenzug und so weiter. Nun könnte der nächste Band folgen: Leben in Berlin ab 1990. Dann aber bitte mit einem schickeren Titelbild. Denn so dröge wie die Szene von 1966 Unter den Linden war der Alltag im Osten ja nun auch wieder nicht! (Lothar Heinke; Der Tagesspiegel)

Bättert man durch dieses Bildband (233 Seiten) so kommt einem auch als Wessi so manches vertraut vor, etliche der Bilder könnten auch im Westen entstanden sein.

Und so ist es eine Begegnung mit den eigenen Wurzeln und Prägungen,die einem widerfahren sind im Laufe der letzten Jahrzehnte. Möglicherweise sind dann die Empfindungen jener Menschen aus „Ost-Berlin“ und anderswo in der DDR intensiver …

Aber kalt lässt einen diese Rückschau nicht… und das liegt natürlich auch daran, dass hier Fotografen am Werke waren, die ihr Handwerk nun wahrlich verstanden.

 

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Aus dem Vorwort

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