Die Geschichte der Hamburger Formation Ougenweide beginnt im Jahre 1969. Damals spielte man hauptsächlich Coverversionen britischer Bands wie Fairport Convention oder Jethro Tull. Der kurze Zeit später hinzugestoßene Olaf Casalich brachte dann die Idee auf, Texte mittelalterlicher Dichter zu vertonen – in der Originalsprache. Musikalisch boten Ougenweide einen mehr oder weniger stark angeproggten Folk-Rock mit deutlichem Einfluss mittelalterlicher Musik.
Nachdem im September 1973 die Sängerin Minne Graw bei Ougenweide einstieg, war die „klassische“ Formation erreicht, die bis zur Auflösung der Band unverändert bleiben sollte. Anfang der 80er wandelte sich der Stil der Band, die letzten Studioalben „Ja-Markt“ (1980) und „Noch aber ist April“ (1981) waren stärker rockorientiert, aber immer noch mit proggigem Einfluss. Die Texte stammten jetzt komplett aus eigener Feder und hatten oft einen sozialkritischen Inhalt.
Nach dem Rauswurf durch die Plattenfirma wegen der schlechten Verkaufszahlen von „Noch aber ist April“ tourten Ougenweide noch für ein paar Jahre, 1985 trennte sich die Band. Ein Jahrzehnt später kam es zu einer kurzzeitigen Reunion und einem neuen Studioalbum „Sol“.
Im Jahre 2007 sind Ougenweide wieder live unterwegs, im Frühjahr 2010 folgte mit „Herzsprung“ nach 14 Jahren ein neues Studioalbum. (babyblaue-seiten.de)
Die Idee für diese CD entstand mit der Begegnung des Gründungsmitgliedes Frank Wulff-Raven und der Schauspielerin und Sängerin Sabine Maria Reiß im Jahr 2000, konnte aber lange nicht umgesetzt werden. Die Kompositionen sind von Frank Wulff-Raven, während Sabine Maria Reiß Texte aus mehreren Jahrhunderten und verschiedenen europäischen Ländern aufspürte und teilweise aus dem Englischen ins Deutsche übertrug. Das Album Herzsprung erschien zum 40-jährigen Bandjubiläum und war das erste Studioalbum nach 14 Jahren.
Auf Herzsprung werden Instrumente wie Gitarre, Bass und Schlagzeug verwendet, aber auch so ungewöhnliche Instrumente wie Tritonshörner, Kinsho Koto, Dutar, Clavioline, Monochord, Launedda, Fiedel, Nyckelharpa und Waldoline. Fast alle dieser Instrumente werden von Frank Wulff-Raven gespielt. Bei Ein leis und traurig Lied, dessen Text Maria Stuart zugeschrieben wird, sind einige der im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe gesammelten Musikskulpturen der französischen Brüder Baschet zu hören.
Die CD eröffnet mit dem Prolog Tritons Ruf, einem auf Meerschneckentrompeten geblasenen Stück, das in das namensgebende Instrumentalstück Herzsprung übergeht. Es folgt ein Heilungssegen aus dem 10. Jahrhundert, Phol ende Uuodan, von Olaf Casalich gesungen. Textvorlage ist der zweite Merseburger Zauberspruch; damit knüpft man an eine erfolgreiche Ougenweide-Nummer an. Mit Ein leis und traurig Lied, in dem Maria Stuart als 18-Jährige den Tod ihres Gatten, Francois II., beklagt, wird von Sängerin Sabine Maria Reiß interpretiert.
Mechthild von Magdeburg, eine der wenigen Minnesängerinnen des 13. Jahrhunderts, beschreibt in ihrem Gedicht Dy Minne die Macht der Liebe, die am Jüngsten Tage in der Waage schwerer wiegen wird als die gesamte Erde. Die Musik wurzelt im französischen Une jeune fillette.
Christina Rossetti, Schwester des Malers Dante Gabriel Rossetti, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Künstlergruppe der Präraffaeliten gründete, ist mit mehreren Texten auf dem Album vertreten. Das Stück Einem Lieben basiert auf zwei Rossetti-Gedichten, die Sabine Maria Reiß ins Deutsche übertrug und zu einem Text zusammenführte. Es folgt mit Uisk flo aftar themo uuatare ein Text aus dem 10. Jahrhundert in Altsächsisch, ein Heilungsgebet für ein Pferd. Der Dansa joioza, ein provenzalisches Tanzlied nach dem Text des Trobadorliedes A l’Entrada, erzählt von der frühlingshaften Aprilkönigin, die über den eifersüchtigen Winterkönig obsiegt. Nach Christina Rossettis Lilien & Rosen über die Vergänglichkeit der Schönheit folgt ein Tanz- und Liebeslied in altem Italienisch, Ella Mia.
Hans Neusidlers Der welsche Tanz, für Knickhalslaute im frühen 16. Jahrhundert komponiert und von Ougenweide schon einmal für das Album Eulenspiegel (1976) bearbeitet, leitet über in ein Lied aus dem Glogauer Liederbuch (um 1470), Ich sachs eins mals, ein kurzer Text über die Liebe und die Endlichkeit allen Lebens. Das dritte Stück nach einem Rossetti-Gedicht ist Echo. Es handelt von der Liebe, die über den Tod hinausgeht. Es führt in das Lied Partite Amore über, ein Abschiedslied, mit dessen Text der Notar Nicholaus Phylippi im Bologna des 13. Jahrhunderts ein Dokument fälschungssicher gemacht hat. Die CD endet mit dem Epilog, einem kurzen Instrumentalstück für Tritonshörner und Kinderklavier.
Sonstiges
Frank Wulff-Raven starb am 19. März 2010, wenige Wochen vor Veröffentlichung des Albums. Am 4. Juni 2010 gab Ougenweide ein Konzert zur Veröffentlichung des Albums, bei dem Wulff-Ravens Part von drei Musikern übernommen wurde. (wikipedia)
Vom ersten Ton an überwältigende Rückkehr dieses Mittelalter-Folk-Urgesteins, 40 Jahre nach der Gründung und fast 15 Jahre nach dem letzten Studioalbum-Lebenszeichen. Aber die lange Zeit des Reifens, nicht zuletzt auch die 40-jährige Erfahrung, des aktiven Am-Musikgeschehen-Teilhabens haben dem einstündigen 15-Song-Epos spür- und hörbar gut getan, entwickelt sich der Herzsprung doch zu einer Stil- und Klangfülle, die man auch bei den schon früher bemerkenswerten stiloffenen Musikern bislang noch nicht erlebt hatte. Mit einigem konventionellen und umso mehr exotischem Instrumentarium (Tritonshörner, Kinsho Koto, Dutar, Clavioline, Monochord, Launedda, Nyckelharpa, Singende Säge, Waldoline) erschafft die Musikanten- und Sängerschar eine überschwänglich Melodie-reiche, Welten und Zeiten verbindende Musik-Vielfalt, die mal zum Tanz, mal zum Lauschen, mal zum Tief-Sinnen lädt. Einflüsse aus Mittelalter, Barock, Jazz, dem Balkan und Asien, irischem Folk und handfestem Rock werden verarbeitet und vereinnahmt und zu einem immer wieder überraschenden, sich verändernden und doch sich treu bleibenden Stil-Fluß vereint. Gemeinsam mit alten Recken und neuen Namen schuf Frank Wulff Raven der Legende Ougenweide ein lebendiges Denkmal, und fand zudem in Sabine Maria Reiß eine Stimme, die Minnes Gesang fast vergessen lässt. Musik und Worte aus vielen Jahrhunderten, im hier und jetzt auf den zeitlosen Punkt gebracht. (Glitterhouse)
Presseinformation:
Vor einigen Jahren entdeckte ich bei einem Konzert (wohl von Laurie Anderson) Frank Wulff unter den Begleitmusikern und sprach ihn in der Pause an auf die großen Ougenweide-Zeiten der späten 70er, die wir geteilt hatten – er auf der Bühne, ich anonym davor. Er war traurig, dass der Backkatalog in den Archiven verdämmerte, trotz des Erfolges aktueller Mittelalterbands, denen Ougenweide jede denkbare Vorlage geliefert hatten. Nach 15 Jahren Pause und neun Jahren Arbeit erscheint nun ein neues Ougenweide-Album, Frank Wulff hatte dem Termin entgegengefiebert – und erlebt nun die Veröffentlichung nicht mehr. Am 19. März starb er, mit 57, und das melancholische Werk wird zum Erbe des grandiosen Multiinstrumentalisten. Es vereint alle Stärken der Folkfusionisten: die instrumentale Exotik (was ist eine Nyckelharpa???); das Verschmelzen von Gestern und Heute; die tiefe Verwurzelung in der Folktradition, die von Tümelei so weit entfernt ist wie Woody Guthrie von Rednecks – und natürlich die pure Freude an Klängen, Melodien und Ensemblespiel. Die hatte das Hamburger Virtuosenensemble selbst in den 80ern nicht verloren, als es sich zu sehr an den Zeitgeist schmiegte und so an Bedeutung verlor. „Herzsprung“ ist ein großartiges Vermächtnis, das sich mit Verlust und Vergänglichkeit beschäftigt und dabei immer den richtigen Ton trifft. Vielleicht entdeckt ja jetzt jemand den Archivschatz der alten Ougenweide-Alben und remastert sie anständig. Man wäre es dem großen Frank Wulff schuldig. (kulturnews.de)
Das Ougenweide-Jubiläumsjahr geht gut weiter! Nach der Wiederbegegnung mit Minne Graw gibt es nun also das lang erwartete Ougenweide-Studioalbum, das erste nach eineinhalb Jahrzehnten! Im Gegensatz zu „Sol“, das in synthetischen Klängen geradezu badete, hat man sich bei „Herzsprung“ Natur pur verordnet. Zum Klingen kommen Instrumente, die die Gebrüder Wulff aus aller Herren Länder nach Hamburg ins heimische O-Ton-Studio gebracht haben. So erklingen in trauter Eintracht Tritonshörner, Launedda, Duar, Koto, Monochord und manch andere exotische (oder historische) Köstlichkeit. Ougenweide gelingt es, aus einer deutlich gereiften Perspektive an die Siebziger anzuknüpfen. Mechthild von Magedeburgs „Dy minne“, die brillante Merseburger Zauberspruch-Vertonung „Phol ende Uuodan“ und „Der welsche Tanz“ klingen ganz wie in den besten Tagen. Allerdings ist an die Stelle der jugendlichen Unbefangenheit von einst die Klangsensibilität eines an Musik und Erfahrung reichen Lebens getreten! Die Arrangements sind über Jahre gewachsen und wurden mit Liebe zum kleinsten Detail ausgearbeitet. Neben dem von Olaf Casalich beseelt und rhythmisch zupackend gesungenen Pferdezauber „Phol ende Uuodan“, über dem ein herrlicher fünfminütiger Spannungsbogen liegt, gibt es ein weiteres Meisterstück: Sabine Maria Reiß interpretiert geradezu entrückt das tieftraurige „Ich sachs eins mals“, in dem sich die Liebessehnsucht des Glogauer Liederbuches mit den Schmerzen aus Blues und Klezmer verbinden. Die Band, die Vorbild für die gesamte Mittelaltermusikszene ist, beschließt ihr Album augenzwinkernd mit einem einminütigen Epilog vom Kaliber „Merseburger Spieluhr“. Ein reifes Werk von abgeklärten Musikern, die wissen, worauf es im Leben ankommt – vergleichbar nur noch mit den aktuellen Produktionen von Sting oder Peter Gabriel! (minnesang.com)
Das Album ist wie ein wunderbar gereifter Whisky … !
Und es versteht sich leider von selbst, dass nach dem Tod von Frank Wulff Raven das Projekt Ouenweide ebenfalls mit begraben wurde.
Besetzung:
Olaf Casalich (vocals, percussion)
Hinrich Dageför (guitar, mandolin, kalimba)
Martin Engelbach (drums)
Krzysztof Gediga (clarinet, accordeon)
Sabine Maria Reiß (vocals)
Frank Wulff Raven (guitar, flute, krummhorn, nyckelharpa, fiddle, clarinetto, zither, keyboards, bouzouki, horn, percussion)
Stefan Wulff (bass, percussion)
+
Angelika Bachmann (violine bei 08. + 09.)
Ferdinand v. Seebach Posaune (trombone bei 07.)
Leonie Wulff (vocals bei 08. + 12.)
Titel:
01. Tritons Ruf (Raven) 0.48
02. Herzsprung (Raven/Dageför) 4.38
03. Phol Ende Uuodan (Raven/Casalich) 5.12
04. Ein leis und traurig Lied (Raven/Erdmann/Stuart) 6.53
05. Dy Minne (Traditional/v.Magdeburg) 3.36
06. Einem Lieben (Reiss/Rossetti) 5.38
07. Uisk Flo Aftar Themo Uuatare (Raven/Traditional) 5.07
08. Dansa Jojoza (Raven/Reiss/Traditional) 4.46
09. Lilien & Rosen (Raven/Reiss/Traditional) 4.51
10. Ella Mia (Raven/Wulff/Dageför/Taditional) 3.43
11. Der welsche Tanz (Raven/Neusiedler) 3.16
12. Ich sachs eins mals (Glogauer Liederbuch) 4.00
13. Echo (Reiss/Rossetti) 4.31
14. Partite Amore (Raven/Reiss/Traditional) 4.13
15. Epilog (Raven) 1.02
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