Gerhard Zwerenz – Der plebejische Intellektuelle (1972)

Zwerenz01A90 Jahre alt ist er geworden …

Gerhard Zwerenz (* 3. Juni 1925 in Gablenz, Sachsen; † 13. Juli 2015 in Oberreifenberg) ist ein deutscher Schriftsteller und ehemaliger Bundestagsabgeordneter und lebt zurzeit in Oberreifenberg im Taunus.

Gerhard Zwerenz wurde in Gablenz/Sachsen als Sohn eines Ziegeleiarbeiters und einer Textilarbeiterin geboren. Er begann nach der Schulzeit eine Kupferschmiedlehre, nahm dann zwei Jahre lang am Zweiten Weltkrieg teil und geriet 1944 nach seiner Desertion zur Roten Armee bei Warschau in sowjetische Kriegsgefangenschaft. 1948 kehrte er aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Er wurde zunächst Dozent und dann Volkspolizist. Von 1949 bis 1957 war Zwerenz Mitglied der SED. Von 1952 bis 1956 studierte er Philosophie bei Ernst Bloch in Leipzig. Seit 1956 arbeitete Gerhard Zwerenz als freiberuflicher Schriftsteller. 1957 wurde er aus der SED ausgeschlossen und floh ein halbes Jahr später nach West-Berlin. Gerhard Zwerenz lebte in München, Köln und Offenbach/Main und lebt heute, gemeinsam mit der Autorin Ingrid Zwerenz, in Oberreifenberg/Taunus.

Er ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

1959 verfasste Gerhard Zwerenz Die Liebe der toten Männer, eine romanhafte Gestaltung des Aufstandes vom 17. Juni 1953. 1961 schrieb Zwerenz die Essaysammlung Ärgernisse – Von der Maas bis an die Memel. Den Essayband Wider die deutschen Tabus brachte er 1962 heraus, genauso wie Gesänge auf dem Markt und Heldengedenktage. Ein Jahr später verfasste er Dreizehn Versuche, eine ehrerbietige Haltung anzunehmen und eine biografische Skizze über Walter Ulbricht.

Mit Casanova oder Der Kleine Herr in Krieg und Frieden verfasste Zwerenz einen Bestseller. In der Gestalt des Helden Michel Casanova wird der Typ des unangepassten Menschen in verschiedenen gesellschaftlichen Systemen geschildert. Die Folgejahre thematisierte er die Sexualität mit Büchern wie Erbarmen mit den Männern. Ein Roman vom Aschermittwochsfest und den sieben Sinnlichkeiten. 1971 schrieb er den Roman Kopf und Bauch und den Essayband Der plebejische Intellektuelle (Ffm. Collection Fischer [1972]). 1973 dann Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond, eine Kritik der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik. Die darin prominent agierende Figur eines jüdischen Grundstücksspekulanten – eine kaum verhüllte Karikatur Ignatz Bubis’ – löste bei Erscheinen des Werks einen Skandal aus und brachte dem Autor den Vorwurf antisemitischer Schriftstellerei ein. Zwerenz’ Freund Rainer Werner Fassbinder verarbeitete den Roman einige Jahre später zu seinem ebenso – wenn nicht noch stärker – umstrittenen Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod. 1980 spielte Zwerenz in dem Rainer Werner Fassbinder-Epos Berlin Alexanderplatz mit. 1986 nahm er mit dem Buch Die Rückkehr des toten Juden nach Deutschland zu den Antisemitismusvorwürfen gegen ihn und Fassbinder Stellung.

GerhardZwerenz

Weiterhin publizierte er Der Widerspruch. Autobiographischer Bericht (1974) und Die Quadriga des Mischa Wolf (1975), worin die von der Staatssicherheit der DDR und deren Leiter des Auslandsnachrichtendienstes Markus Wolf inszenierte Agentenaffäre Guillaume verarbeitet wird. Danach beschloss Zwerenz, seine Werke nur noch als Taschenbücher zu veröffentlichen. 1982 verfasste er Antwort an einen Friedensfreund oder längere Epistel für Stephan Hermlin und meinen Hund und 1989 den Roman Vergiß die Träume Deiner Jugend nicht. Zu seinem 65. Geburtstag 1990 kündigte Gerhard Zwerenz an, dass er nicht mehr schreiben wolle und in Rente gehe.

Während seiner schriftstellerischen Tätigkeit schrieb Zwerenz unter dem Pseudonym Gert Amsterdam auch erotische bis pornografische Literatur. Eines dieser Bücher, Das Kleingeld der Hetären, wurde von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien 1987 als jugendgefährdend indiziert.

1991 erhielt er den Alternativen Georg-Büchner-Preis. Die politischen Schriften Rechts und dumm und Links und lahm schrieb er 1993 und 1994. 2004 schrieb er ein Vorwort für das Buch des einstigen Rechtsextremisten Torsten Lemmer, „Rechts raus“. Außerdem erschien sein gemeinsam mit Ingrid Zwerenz geschriebenes Buch Sklavensprache und Revolte.

Die linke Berliner Tageszeitung junge Welt veröffentlichte im Zusammenhang mit Gerhard Zwerenz’ 80. Geburtstag (2005) im Feuilleton (jW 7. Mai 2005, p. 12) Zwerenz’ zuerst 1948 publizierte Anti-Kriegs-Ballade vom Holzhaufen bei Minsk. (Quelle: wikipedia)

Hier mal einen Essay-Band von Zwerenz, der für mich exemplarisch dokumentiert, auf welchem (aus meiner Sicht: hohem) intellektuellen Niveau die Linke damals die gesellschaftlichen Bedingungen reflektierte. Hier der Überblick über die in dem Band versammelten Essays:

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Mir ist schon klar, dass solche Werke via pdf nicht so ganz einfach zu lesen sind, aber ich will z.B. dringend auf den Beitrag „Vietnam, Untergang der deutschen Presse“ hinweisen.

Einfach deshalb, weil dieser Artikel sehr gut zusammenfasst, was sich damals hinsichtlich des Vietnam-Krieges in Deutschland tat und insbesondere wie die Presse auf die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg reagierte. Ein Beispiel:

„Berlin war am Wochenende Schauplatz eines beschämenden Vorgangs. Mehr als tausend Studenten und andere Jugendliche demonstrierten gegen die Vietnam-Politik der Vereinigten Staaten. Eine Anzahl von ihnen rottete sich vor dem Amerikahaus zusammen, warf Eier gegen die Fassade und setzte die amerikanische Fahne auf halbmast.

Natürlich stoßen Studenten, den den Abzug der Amerikaner aus Vietnam verlangen … in der Öffentlichkeit dieser Stadt auf einhellige Ablehnung … das Gefühl der Verbundenheit mit der amerikanischen Schutzmacht geht durch alle Bevölkerungsschichten. Das bewies zuletzt der Erfolg der vorweihnachtlichen Solidaritätsaktion …

Warum geht der Regierende Bürgermeister Willy Brandt nicht in die Freie Universität und sagt den Studenten in einer großen Versammlung, wie die politischen Zusammenhänge im Vietnam-Krieg wirklich aussehen.

Aufwachen muß auch die Westberliner Polizei, die es zuließ, daß die amerikanische Fahne vor dem Amerikahaus auf halbmast … gesetzt wurde.“ (Bernt Conrad, 7.2.1966 in der „Welt“)

VietnamDemonstration

Wie gesagt: zum Verständnis jener Zeit ist dieser Band mehr als aufschlussreich. Die Essays sind zwischen den Jahren 1966 und 1971 entstanden, davon sind 2 bis dahin unveröffentlicht geblieben. Beigelegt habe ich dann noch eine Besprechung des Büchleins (102 Seiten) von Yaak Karsunke (auch kein Unbekannter in der damaligen Szene).

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Besprechung von Yaak Karsunke

Besprechung von Yaak Karsunke (vermutlich aus der „Frankfurter Rundschau“, 20.5.1972)