Norbert Göttler – Roter Frühling (2004)

TitelIm letzten Jahr wurde ja landauf, landab der kurzfristigen Räterepublik im Jahre 1919 gedacht und ich habe leider diverse Veranstaltungen, die mich eigentlich interessiert hätten, verpasst.

Aber: ich habe immerhin das Buch „Roter Frühling“ von Norbert Göttler gelesen:

Norbert Göttler (* 9. August 1959 in Dachau) ist ein deutscher Publizist, Schriftsteller, Fernsehregisseur und Mitglied des deutschen PEN-Zentrums.

Norbert Göttler wuchs in der Gemeinde Prittlbach auf, studierte in München Philosophie, Theologie (Dipl.) und Geschichte und promovierte 1988 zum Dr. phil. im Fach Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Als freier Publizist arbeitet er für die Süddeutsche Zeitung, als Schriftsteller für verschiedene Verlage (Rowohlt, dtv, Ehrenwirth, Lübbe) und als Fernsehregisseur für die Sender BR, ARD, 3sat und arte.

Von 2000 bis 2012 war Göttler Lehrbeauftragter für Wissenschaftsjournalistik an der Hochschule für Philosophie München. 2013 übernahm er eine Gastprofessur an der Tulane-Universität, New Orleans (USA). Seit 2012 ist er hauptamtlicher Bezirksheimatpfleger des Bezirks Oberbayern. Göttler ist Mitglied des deutschen und des Deutschschweizer PEN-Clubs, der Europäischen Akademie der Wissenschaften und

Norbert Göttler02

Norbert Göttler

Künste (Salzburg), des Münchner Presse-Clubs und der Literatenvereinigung „Münchner Turmschreiber“, deren Co-Präsident er von 2000 bis 2011 war. Seit 2012 ist Göttler Redaktionsmitglied der Zeitschrift Literatur in Bayern. (Quelle: wikipedia)

Und sein Buch „Roter Frühling“ hat mich schon schwer beeindruckt:

München im Herbst 1918. In der Stadt brodelt es. Nach dem verlorenen Krieg drängen sich verarmte Kleinbürger, entwurzelte Soldaten, Deserteure und Schwarzhändler in den Straßen. Vor den öffentlichen Suppenküchen stehen die Menschen Schlange, der Unmut wächst. Während das Bürgertum Münchens wie gelähmt ist, wird in Schwabing der Weg in die Räterepublik bereitet. Künstler und Intellektuelle wie Kurt Eisner, Erich Mühsam und Ernst Toller rufen zur Revolution auf. Der letzte
bayerische König Ludwig III. flieht heimlich aus dem Land. In Dachau kommt es zur Schlacht zwischen Revolutionären und den Regierungstruppen. Während in der fiebrigen Welt der Schwabinger Boheme Entwicklungen diskutiert werden, erprobt der Psychologe Dr. Sitty die Theorien des jungen Wiener Nervenarztes Sigmund Freud an einer Patientin.

Norbert Göttler01.jpg

Norbert Göttler mit Johanno Strasser

Norbert Göttler zeichnet in seinem Roman ein brillantes und vielschichtiges Bild der revolutionären Geschehnisse nach und blickt auf die kleinen Leute, deren Biografien sich nicht in den Geschichtsbüchern finden lassen.
Mit seinen Illustrationen liefert Klaus Eberlein bestechende Momentaufnahmen aus einer der packendsten Episoden der jüngeren Geschichte Münchens. (Verlagstext)

Räterepublik01

Jubelnde Soldaten am 8. November 1918 in München nach der Ausrufung der bayerischen Republik

Der Kampf um Dachau im Jahr 1919 bot für Norbert Göttler den ersten Anlass, sich mit dem Thema Räterepublik zu beschäftigen. Ernst Toller, Kommandant der Dachauer Truppen und militärisch weitgehend unerfahren, war es am 16. April gelungen, die Regierungstruppen aus der Stadt zu vertreiben. Den Triumph feierte die Rote Armee mit orgiastischen Festen und Saufereien, die aber alle ordentlich bezahlt wurden, bevor die Weißgardisten Dachau zurückeroberten und damit das blutige Ende der Räterepublik einläuteten.

Kein Wunder, dass dieses Thema den damaligen Kreis- und jetzigen Bezirksheimatpfleger schon während seines Studiums faszinierte. Entstanden ist daraus im Jahr 2004 der Roman „Roter Frühling“, der die Monate der Räterepublik schildert. 100 Jahre nach der bayerischen Revolution hat nun der Allitera Verlag das Buch mit geringfügigen Veränderungen neu aufgelegt.

MühsamToller

Erich Mühsam & Ernst Toller

Die Schwabinger Boheme diskutiert die aktuellen politischen Entwicklungen im Herbst 1918 genauso hitzig wie die Theorien des jungen Wiener Nervenarztes Sigmund Freud. Mitten drin in allen Debatten Sophie Sitty, Arzttochter und Kunststudentin. Für sie ist die Revolution lang nur ein spannendes Abenteuer. Es dauert ziemlich, bis sie erkennt, dass ihr Geliebter, der Russe Sergej Gramow, Mitglied der konterrevolutionären Thule-Gesellschaft ist und sie als Spionin missbraucht. Auch checkt sie nicht, dass sie Freund Alexander von Abstreiter, der sie mit seiner Anhänglichkeit nervt, an diesen antisemitischen Geheimbund vermittelt hat. Doch der drogensüchtige junge Mann, den sein Vater für einen Versager hält, fühlt sich zusehends wohl in einem von der Thule-Gesellschaft unterstützten Freikorps, während Commercienrat Abstreiter, ein Fabrikant, der noch im königlichen Bayern wurzelt, die neue Zeit überhaupt nicht mehr versteht. Bleibt noch Benno Vermehr, ein desertierter Soldat, der sich als Leibwächter Kurt Eisners der Revolution anschließt und dessen militärisches Fachwissen die intellektuellen Revoluzzer gut brauchen können.

Göttler beschreibt anschaulich den Zusammenbruch der alten Ordnung; die unterschiedlichen Charaktere, die aufeinander stoßen, ergeben ein spannendes Gerüst. Ein Buch für alle, die einen Überblick über die Räterepublik gewinnen wollen, ohne sich lang mit Fachbüchern auseinanderzusetzen. (Sabine Reithmaier)

Kurt Eisner

Kurt Eisner

Das Buch beschreibt aber nicht nur „anschaulich“ jene Zeit im Münchner Raum, sondern ergänzt diese Beschreibungen einerseits durch Original-Zitate, die meistens aus dieser Zeit stammen und der intensive Eindruck des Buches wird dann noch durch die nicht minder intensive Holzsschnitte von Klaus Eberlein verstärkt:

Klaus Eberlein (* 9. Februar 1941 in München) ist ein deutscher Grafiker, Illustrator und Keramik-Plastiker.

Klaus Eberlein wurde 1941 in München als Sohn eines Buchhändlers geboren. Er

Klaus Eberlein

Klaus Eberlein

absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Chromolithographen. Von 1962 bis 1968 besuchte er die Akademie der Bildenden Künste München, ab 1968 war er Meisterschüler von Prof.Hermann Kaspar mit abschließendem Diplom der Akademie. Eberlein ist Mitglied im Verein für Original-Radierung, der Künstlervereinigung Dachau und der Künstlervereinigung Münchner Zeichner. 2013 wurde er in die Süddeutsche Literatenvereinigung Münchner Turmschreiber aufgenommen. (Quelle: wikipedia)

So gesehen ein wirklich pralles Buch und nein, ich habe es nicht eingescannt (denn selbst ich bin nicht so bescheuert, ein Buch mit über 300  Seiten einzuscannen.)

Aber: Ich habe mir gedacht, zumindest die Graphiken und die o.g.  Originalzitate von den handelnden Akteuren aber auch von Autoren wie Oskar Maria Graf, Rainer Maria Rilke und Ernst Troller, sollten hier mal auftauchen. Na ja, und dann gibt es in diesem Buch einen Epilog, der damaligen geschichtlichen und mehr als tragischen Ereignisse zusammenfasst. Kann man dann in der Präsentation auch noch lesen, quasi als Einstieg in diese Materie … eine Zeit die dann wohl auch wegbestimmend wurde, für dieses Jahrhundert.

Beispiel01.jpg

Beispiel02

Beispiel03.jpg

Beispiel05

Beispiel06

Das nennt man dann wohl Geschichtsfälschung …

Beispiel04.jpg

Beispiel07

Und das dann Augenauswischerei …

Beispiel08

Beispiel09

Beispiel11

Beispiel10

Beispiel12

Beispiel14

 

Beispiel13

Beispiel17

Beispiel16

Beispiel20

Beispiel21

Beispiel23

Beispiel18

Beispiel23

Beispiel25

Beispiel19

Beispiel27

Beispiel24

Beispiel28

Beispiel30

Beispiel29.jpg

Beispiel31

Beispiel32

Beispiel33

Beispiel34

Beispiel35

Beispiel37

Beispiel38

Beispiel39

Beispiel36

Beispiel40

Beispiel41

Beispiel49

Beispiel42

Beispiel45

Beispiel46

*
**

Beispiel48

Michaela Wunderle – Warum ist Bayern Freistaat – Von der Räterepublik zum Mia san mia (2018)

Postkarte1918.jpg

Wussten Sie, dass das Bundesland Bayern Produkt einer Revolution ist? In der Nacht zum 8. November 1918 erklärte der Sozialist Kurt Eisner Bayern zum Freistaat.

Er beendete damit die Herrschaft der Wittelsbacher Monarchie und wurde Bayerns erster Ministerpräsident. Freistaat, das war ein Synonym für Republik. Heute hat die CSU den Begriff umgemünzt – in ein hemdsärmeliges „mia san mia“.

Briefmarke.jpgWie kam es zur bayrischen Revolution? Sie geschah neben den Ereignissen in Berlin, zu einer Zeit, in der alles möglich schien – Frieden, soziale Gerechtigkeit, Demokratie. Der Sonderweg der Bayern, bei dem Dichter eine tragende Rolle spielten, dauerte fünf kurze, turbulente, tragische und auch skurrile Monate.

Ministerpräsident Kurt Eisner, Pazifist, Humanist und Idealist, wurde im Februar 1919 von einem völkisch-nationalen Offizier auf offener Straße erschossen. Der Mord gab der Revolution Auftrieb: Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte proklamierten darauf die erste „Baierische Räterepublik“. Selbst in kleinsten Gemeinden übernahmen Räte die Macht, manchmal nur für Stunden. In München regierten Dichter und Anarchisten, allesamt von der Idee der Freiheit beseelte Idealisten. (HR-Ankündigung)

Diese Infosendung des Hessischen Rundfunks informiert über jene Zeit, die einen fast atemlos machen kann … das rote Bayern gründet nicht nur die Räterepublik sondern auch den Freistaat.

Und da will ich es nicht nur dem Herrn Söder überlassen, das nun stattgefundene Jubiläum zu feiern …

KurtEisner.jpg

Eisner auf der Fahrt zur Reichskanzlei in Berlin anlässlich einer Konferenz der Reichsregierung (zu der Zeit „Rat der Volksbeauftragten“), 22. November 1918 (Fotografie von Robert Sennecke)

Zumal es kaum noch jemand weiß, dass wir den „Freistaat“ dem Sozialisten Kurt Eisner verdanken.

Und ein wenig amüsant ist es dann schon, wenn eine hessische Rundfunksprecherin versucht, bayerisch zu reden …

Aber unabhängig davon: Ein mehr als hörenswerter Radiomitschnitt, nicht nur zur Geschichte Bayerns, sondern letztlich zur Geschichte Deutschlands, denn diese Rätebewegung gab es damals wohl auch in Städten wie Berlin und Kiel.

Die Präsentation enthält neben dem Radiomitschnitt auch das dazugehörige Sende-Manuskript.

Karikatur.jpg

Besetzung:
Judith Kösters (Sprecherin)
+
Michaela Karl (Autorin des Buches „Die Münchner Räterepublik, Porträts einer Revolution, Düsseldorf 2008
Rosa Leviné (Ehefrau des KPD Aktivisten Eugen Leviné in einer Archivaufnahme)
Simon Schaupp (Autor des Buches „Kurzen Frühling der Räterepublik“. Münster, 2017)
Hans Well (1)
Volker Weidermann (Autor des Buches: „Träumer – Als die Dichter die Macht“, Köln, 2017)
u.a.

Manuskript: Michaela Wunderle

Titel:
01. Warum ist Bayern Freistaat – Von der Räterepublik zum Mia san mia 24.55

Gärtnerplatz.jpg

Soldaten der Münchner Räterepublik am Münchner Gärtnerplatz

*
**

HörbuchHansWell.jpg

Klaus Kordon – Die roten Matrosen (Hörbuch) (1999)

FrontCover1Ein bemerkenswertes Hörbuch für Jugendliche …das fand auch die Zeitung „Die Zeit“:

November 1918. Helle, der eigentlich Helmut Gebhard heißt, wohnt in der Ackerstraße, der ärmsten Straße des Wedding. Hier wohnen die Menschen auf engstem Raum in hohen Mietskasernen, in feuchten, schimmeligen Kellerwohnungen, zugigen Dachkammern, in Schuppen auf den dunklen Hinterhöfen, Tbc-krank, frierend, hungrig: Der Krieg dauert schon vier Jahre. Hier erlebt Arbeiterkind Helle, etwa dreizehn Jahre alt, die Novemberrevolution, jene „gescheiterte Revolution“ –

Klaus Kordon: „Die roten Matrosen oder Ein vergessener Winter“; Beltz Verlag, Weinheim; 487 S., 24,80 DM.

Der Autor greift damit ein Stück deutscher Geschichte auf, die in der Literatur für junge Leute im Gegensatz zu der, die das Dritte Reich behandelt – bisher nahezu vergessen worden ist. Die aber zum Verständnis der Nazizeit so wichtig, ja unumgänglich ist.

Helles Vater kehrt von der Front zurück, verletzt an Körper und Seele, verändert, illusionslos. Er war „stolz und lachend“ in den Krieg gezogen, um sein Vaterland zu verteidigen. Er hat auf dem Schlachtfeld das Grauen und die Sinnlosigkeit kennengelernt, weiß, daß „die wahren Nutznießer eines Krieges nur die sind, die an ihm verdienen – die Industrieherren“, die Kanonen, Bomben, Granaten herstellen.

PortrŠt Autor Klaus Kordon

Klaus Kordon

Auch das hat sich bei Helles Vater geändert: Aus einem gemäßigten Sozialdemokraten ist ein radikal denkender und handelnder Sozialist geworden. Er schließt sich den Spartakisten um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg an, nimmt teil an Demonstrationen und Kämpfen, um „den Kaiser fortzujagen und den Krieg zu beenden“. Es sind schwere Kämpfe von Dezember 1918 bis Januar 1919, angeführt und ausgelöst durch die Kieler Matrosen, die auch nach Berlin kamen. Bürgerkriegsähnliche Straßenkämpfe, an deren Ende zunächst der Sieg (Arbeiter- und Soldatenrat, „Rat der Volksbeauftragten“) stand, dann aber doch „die Niederlage“. Denn mit einem Friedrich Ebert, der mit dem Militär paktierte, wollten die Spartakisten nichts zu tun haben.

Helle erlebt, beobachtet, hört alles mit, im Haus, auf der Straße, in Verstecken, beim Marsch aufs Schloß, beim Verteilen von Flugblättern und der Besetzung der Zeitungsgebäude. Er wird hautnah konfrontiert mit den Grausamkeiten der Straßenschlachten, lernt den Tod kennen, das Leben im Untergrund, den Mut und die Verzweiflung der Kollegen seines Vaters. Er erlebt die Liebe, Freundschaft und Solidarität in der Familie, von Freunden und Nachbarn.

Diverse Buchausgaben

Für Helle ist besonders wichtig, daß er fragen kann: In seiner Familie diskutiert man offen, trägt Konflikte aus, auch Helles Zweifel und Widersprüche werden ernst genommen. Das ist nicht selbstverständlich – sein Freund Fritz, bürgerlicher Beamtensohn und Gymnasiast, wird zu Hause nur mit Phrasen abgespeist oder mit Stubenarrest und Schlägen bestraft. Gerade um diese Freundschaft, gegen alle väterlichen Widerstände, bemühen sich die beiden. Obwohl so viel Fremdes zwischen ihnen steht: große Mietskaserne, winzige Räume, stinkende Abflüsse mit Ratten, Petroleumbeleuchtung, ein Klo für mehrere Mietparteien – das ist Helles Realität.

Mietskasere

Berliner Mietskasernen

Treppengeländer mit Engelsköpfen, Fenster mit bunten Glasstücken, bleigefaßt, elektrisches Licht, Wohnungen mit hohen Fenstern, Balkon, weißen Tischdecken, gehäkelten Deckchen, Bildern an den Wänden, Sofas mit bestickten Kissen – das gehört zu Fritz. Nach aller Mühe umeinander endet diese Freundschaft mit der bitteren Erkenntnis, daß die Unterschiede unüberbrückbar sind.

Nicht nur der Vater von Fritz hatte einen Stock zum Schlagen: Der kaisertreue Lehrer Förster („Ordnung, Fleiß und Sauberkeit sind die Grundregeln für jeden, der ein brauchbarer Mensch werden will“) in Helles Volksschule schlägt täglich und gern, besonders „das rote Pack der Vaterlandsverräter Aber da gibt es auch eine Rechenlehrerin, die lieber nicht mit U-Booten rechnen würde, sondern mit Dampfmaschinen, die im Lehrbuch „aus Granaten lieber Birnen machen würde“. Und es ist der Lehrer Flechsig da, der sich offen in der Klasse zur Revolution bekennt, am Ende den Schuldienst quittiert, weil „er keine Kompromisse mehr schließen will“. Die Rechenlehrerin dagegen bleibt im Beruf, weil sie glaubt, „daß wir trotz aller Rückschläge einen Schritt vorwärts gemacht haben – mir ist ein Ebert lieber als ein Kaiser…“ Wie hatte Lehrer Flechsig am 9. November gesagt? „Entweder verändert sich heute eine ganze Menge, oder wir gehen düsteren Zeiten entgegen.“

Küche

Küche in einer Berliner Meitskaserne

Die Frage, ob Adolf Hitler und die Nationalsozialisten je an die Macht gekommen wären, wenn „Ebert und seine Gefolgsmänner die Revolution von 1918/19 nicht erstickt hätten“, stellt Klaus Kordon in seinem (sehr sorgfältigen) Nachwort und historischen Anhang auch. Er verneint sie, drückt sich aber auch nicht vor der Frage, was im Falle eines Sieges der Männer um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gekommen wäre. Eine Räterepublik sowjetischer Prägung? Wohin die Entwicklung im ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat der Welt geführt hat, nennt er klar beim Namen: Diktatur, Verfolgung Andersdenkender, Menschenrechtsverletzungen. „Doch es wäre falsch, den Revolutionären von 1918/19 zu unterstellen, ein solcher Staat wäre ihr Ziel gewesen.“ Helles Vater, seine Freunde und Mitkämpfer jedenfalls hatten anderes im Sinn: Beendigung des Sterbens und Hungerns, mehr Gerechtigkeit, ein besseres Leben. Helle hat sich in diesen schweren Wochen verändert, hat Denken gelernt, Selbstvertrauen und Mut.

Kordons Roman, eine besondere Art der Geschichtsschreibung von unten, ist ein Glücksfall: Er verkündet keine Thesen, sondern beschreibt Menschen, ihre Gedanken und Gefühle, witzig, nachdenklich, einfach, aber nicht vereinfachend, fast ohne Klischees. Er bezieht Position. Auch das lernen die jungen Leser: Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ (Rosa Luxemburg). Die Berliner Ackerstraße gibt es übrigens heute noch, zweigeteilt durch eine Mauer – das (vorläufige) Ende der Revolution im vergessenen Winter 1918/19. (Anne Linsel)

Mittlerweile ist die Ackerstraße nicht mehr zweigeteilt.

Räterepublik01

Revolutionäre Arbeiter besetzen Teile der Innenstadt von Berlin

Nun zur Hörbuch-Fassung (gekürzte Fassung): Wenn einem die Sprache zuweilgen arg schlicht vorkommt, wenn einem die Typen des Romans gelegentlich arg heroisierend dargestellt vorkommen, sollte man berücksichtigen, dass es sich hier um einen Roman für Kinder ab 12 Jahren handelt.

Aber ansonsten kann man nur voll des Lobes sein:

„Was kostet eigentlich ein Arm?” Als Helle das im Rechenunterricht fragt, hält die ganze Klasse den Atem an. Die Jungen sollten ausrechnen, wie viele Mark die U 9 mit drei Schüssen vernichtet hat, als sie drei englische Panzerkreuzer in den Grund bohrte. Immer nur die Verluste der anderen, findet aber der dreizehnjährige Helle, nie die der eigenen Truppen. Dabei haben von den dreiundzwanzig Jungen in Helles Klasse schon neun ihren Vater verloren, zwei sind Krüppel, einer sitzt im Gefängnis, weil er gegen den Krieg gestreikt hatte. Helles Vater gehört zu den zwei Krüppeln, er ist wenige Tage zuvor von der Front zurückgekehrt, zum letzten Mal, mit diesem seltsam
leeren Ärmel. Der Stumpf wackelt komisch hin und her, weil die Ärzte den
zersplitterten Knochen entfernen mussten, und Helle mag am Anfang gar nicht hinsehen. Doch der Vater zwingt ihn dazu. Immer wegschauen bringt nichts, sagt er.

Räterepublik02

Spartakisten hinter Barrikaden aus Papierrollen, Berlin, 11. Januar 1919

Auch Klaus Kordon schaut hin, und zwar ganz genau. Mit Akribie zeichnet er die Ereignisse der letzten Kriegswochen und der Revolution von 1918 nach, ein unbestechlicher Chronist der Geschichte kleiner Leute. „Die roten Matrosen” sind der erste und packendste Teil der Trilogie über die Arbeiterfamilie Gebhardt, die er mit „Mit dem Rücken zur Wand” (die Jahre 1932/33) und „Der erste Frühling” (1945) fortgesetzt hat. Kordon erzählt lebendig, die Geschichten hinter der Geschichte, für Jugendliche. Seine jungen Leser verschont er nicht, und deshalb fühlen sie sich ernst genommen.
Wie ein Lauffeuer verbreitet sich im Berliner Arbeiterbezirk Wedding, dass in Kiel die Matrosen streiken. Helles Vater schließt sich den Spartakisten an, die am 9. November 1919 Arbeiter und Soldaten zum Generalstreik aufrufen, um den Kaiser zum Rücktritt zu zwingen. Ihnen schwebt freilich eine andere Regierung vor als die unter dem Reichskanzler Friedrich Ebert.
Dass die Unabhängigen „auf Ebert reingefallen sind”, wie Helles Vater sagt, zieht sich wie ein tiefer Riss durch das vierte Hinterhaus der Ackermannstr. 37, so tief wie der Bruderzwist unter den Sozialisten. Hautnah bekommt der Leser ihn mit, wenn Helles Vater sich mit sei-nen einstigen Freunden darüber entzweit. Noch tiefer verlaufen die Gräben zwischen den Kaisertreuen und den Sozialdemokraten, etwa den Lehrern Förster und Flechsig, von denen der eine seine Schüler mit dem Rohrstock maßregelt und der andere sie politisch aufklärt. Oder auch zwischen Helle und seinem früheren Freund Fritz, jetzt als Gymnasiast etwas Besseres, dem der konservative Vater verbietet, mit dem „roten Pack” aus der Ackermannstraße zu spielen.

Räterepublik03

Besetzung des Berliner Zeitungsviertels, 1919

Kordons Sympathie, man spürt es, liegt auf der Seite der Armen, der Ver-folgten, der Diskriminierten. Doch er bedient keine Klischees, dafür hat er selbst genug unter dem Realsozialismus gelitten. Zwölf Monate saß er als Republikflüchtiger im Knast, 1973 wurde er vom Westen freigekauft. Kordon ist ein moralischer Erzähler, ohne moralisch zu sein. Mit „Die roten Matrosen” rettet er die Ehre der Revolutionäre von 1918 und lässt ein oft vergessenes Kapitel deutscher Geschichte aufleben. (Jeanne Rubner, Süddeutsche Zeitung, 3. November 2005)

Und hier knapper Abriß der Biographie von Klaus Kordon:

Klaus Herbert Kordon (* 21. September 1943 in Berlin-Pankow) ist ein deutscher Schriftsteller im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur.

Klaus Kordon wuchs im Ost-Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg auf. Da sein Vater im Krieg umgekommen war, wurde er alleine von seiner Mutter erzogen. Nach dem Tod der Mutter im Jahr 1956 lebte Kordon in verschiedenen Heimen. Klaus Kordon absolvierte in der DDR eine Ausbildung als Fernsehmechaniker, arbeitete in verschiedenen Berufen und machte schließlich das Abitur. Nach einem Fernstudium der Volkswirtschaft unternahm er als Exportkaufmann berufliche Reisen, die ihn unter anderem nach Indien, Indonesien und Nordafrika führten. Zu dieser Zeit begann er mit dem Schreiben. Seine zunehmende Distanz zur politischen Praxis in der DDR mündete 1972 in einem Fluchtversuch über Bulgarien in den Westen. Kordon wurde festgenommen und in das zentrale Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit im geheimen Sperrgebiet von Berlin-Hohenschönhausen eingeliefert; er blieb ein Jahr in Stasi-Haft. Nach eigener Aussage überlebte er die fünf Monate in Einzelhaft, indem er sich im Kopf Romane ausdachte.[2] 1973 kaufte ihn die Bundesrepublik Deutschland frei. Sein erstes Buch, der Jugendroman Tadaki, erschien 1977. In seinem autobiographischen Roman Krokodil im Nacken verarbeitete er die Hafterfahrung.

Klaus Kordon ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur.

Klaus Kordon		(Foto: sis) Jugendbuchautor Geschichtslesesommer

Kordon schreibt Romane, Erzählungen, Märchen und Gedichte. In seinen Büchern verarbeitet er geschichtliche Stoffe. Seine Akteure sind meist Arbeiter oder von der Gesellschaft marginalisierte Gruppen. Andere Werke sind von seinen Reisen inspiriert. Mit Die Zeit ist kaputt schrieb Kordon eine Biografie von Erich Kästner für Jugendliche und Erwachsene. Die Mehrfachadressierung seiner Werke ist jedoch nicht auf diesen Text beschränkt; vielmehr lässt sie sich als kennzeichnendes Merkmal verstehen, wie Julian Kanning ausführt:

Kordons von der Lust am Erzählen durchdrungenes, vielfältiges Werk hat viele begeisterte Leser/innen aller Altersstufen gefunden und wird nicht ausschließlich von Kindern und Jugendlichen, sondern auch von Erwachsenen rezipiert, die an fiktionalisierter historischer und zeitgeschichtlicher Erfahrung interessiert sind. (Quelle: wikipedia)

Und wenn ich das nächste mal in Berlin sein werde, wid mich der Weg auch ganz sicher in die Ackermannstraße führen.

Klaus Kordon2

Klaus Kordon in Köln am 26. Februar 2008

Besetzung:
Christian Baumann (Sprecher)
Klaus Kordon (Sprecher)

Booklet1

Titel:
01. Die roten Matrosen (Teil 1) 40.56
02. Die roten Matrosen (Teil 2) 37.51
03. Die roten Matrosen (Teil 3) 43.47
04. Die roten Matrosen (Teil 4) 42.07

MC4A
*
**

Heinrich Zille

Heinrich Zille: Berlin – Ackerstraße, 1907