Arno Schmidt – Die Schule der Atheisten (Hörbuch) (1995)

MCFrontCover1Wahrlich eine Rarität aus dem Bereich der deutschen Literatur der Nachkriegssgeschichte … Ein ganz spezielles Hörbuch, das sich mit dem Arno Schmidt Werk „Die Schule der Atheisten“ beschäftigt, ein wahrlich turbulenter Roman aus dem Jahr 1972:

Die Schule der Atheisten (Untertitel: Novellen=Comödie in 6 Aufzügen) ist ein Werk des deutschen Schriftstellers Arno Schmidt mit 80 stark kommentierten szenischen Kapiteln.

Das Werk erschien zuerst 1972 im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 1994 erschien es neu in der Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe IV, Band 2 als Edition der Arno Schmidt Stiftung im Haffmans Verlag.

Konzipiert und niedergeschrieben wurde das bei weitem komischste unter Schmidts Spätwerken in den Jahren 1969 bis 1971. Schmidt konnte sich dabei auf lokale Recherchen stützen, die er bei einem Besuch in Tellingstedt und im schleswig-holsteinischen Dithmarschen, auf mehreren Reisen zusammen mit dem Ehepaar Michels, gesammelt hatte. Das katastrophische Szenario vom Untergang Europas durch einen dritten Weltkrieg, das von ihm vorher mehrfach, z. B. in Schwarze Spiegel, Die Gelehrtenrepublik und KAFF auch Mare Crisium behandelt worden war, erhielt dabei eine völlig neue und – für Schmidt überraschend – unbeschwert-heitere Wende. Am Ende gibt es den trügerischen Anschein einer Hoffnung im von den Großmächten geduldeten Fortbestehen des Reservats. Die Handhabung der „verschmidtsten“ Sprache vermeidet alle Gequältheiten, die sich in Zettels Traum doch finden. In Zettels Traum findet sich ein erster Verweis auf das ihm folgende Werk:

„(-:was weißDû vd ‚SCHULE DER ATHEISTEN‘ !:- héh !? -))“

– Zettels Traum: S. 222, rechts Mitte
„….ausgerechnet zu Uns, nach Tellingstedt“
Vernis mou-Radierung von Jens Rusch

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Die USA (als Matriarchat) und China (als Patriarchat) haben als konkurrierende Großmächte den Atomkrieg überlebt, in Europa jedoch nur ein, im für Schmidt typischen Norddeutschen Flachland gelegenes, Reservat an der Eider. Es soll die Kultur, die Sitten und Gebräuche der Vergangenheit des alten Europa als touristische Attraktion museal bewahren. Das Gebiet wird von dem fünfundsiebzigjährigen Senator und Friedensrichter William T. Kolderup regiert. Im Oktober 2014 kündigt sich die Außenministerin der USA, Nicole Kennan, genannt Isis, zu einer Besichtigungstour an und stört die Idylle. Eine Auflösung des Reservats könnte bevorstehen.

Die politischen Schwierigkeiten und Spannungen zwischen den verbliebenen Großmächten erhalten eine jähe Wendung, als Ufos gesichtet werden. Plötzlich besteht die Notwendigkeit, auf dem neutralen Boden des Reservates eine Konferenz mit einer chinesischen Delegation abzuhalten, um den nächsten, drohenden Krieg doch noch zu verhindern. Das Überleben, jetzt nicht nur des Reservats, hängt von einem positiven Ausgang des Treffens ab. Damit dieses Treffen ein voller Erfolg wird, bedient sich der alte Kolderup aller in Kolportage-Romanen üblichen Kniffe. Vor vielen Jahren hatte er mit der Mutter der jetzigen US-Außenministerin einen Schiffbruch vor Spenser Island

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Die Originalausgabe

überstanden. Gerührt durch die damaligen Ereignisse, wird ihm die Ministerin gewogen. Ein Schatzfund (man denke an Schmidts Das steinerne Herz) in Gestalt chinesisch beschrifteter Kacheln, welche sich als wichtiger Bestandteil eines Ahnenschreins entpuppen, eine Reminiszenz an den China-Aufenthalt des Vaters des Verfassers (ein von Schmidt in vielen seiner Bücher geübtes Verfahren) wird hier handlungstragend. Für den chinesischen Verhandlungsführer Yuan Schi Kai stellen die Kacheln wertvolle Geschenke dar. Durch Kolderups geschicktes Agieren kommt es zu einer Übereinkunft der Großmächte und das Reservat erhält eine (vorläufige) Bestandsgarantie.

In die erste Handlungsebene ist raffiniert eine Seereise mit Schiffbruch eingeflochten, als ein „Dazwischenspiel“, am Ende wie ein feingesponnener Traum, der wie eine kalkulierte Fernsehinszenierung mit Tricks hinter den Kulissen für Verwirrung sorgt. Es ist dies der Bericht von der Seereise dreier Atheisten, deren Überzeugung von einer Missionsgesellschaft einer Prüfung unterzogen wird. Dem liegt der reale Bericht über das Missionsschiff Candace zugrunde. Ein den Kolportage-Romanen Karl Mays direkt entsprungener junger Apotheker, der in der „Schule“ den jugendlichen Helden geben darf, steht hier stellvertretend für die May-Bezüge, die in mehreren Werken Schmidts vorhanden sind.

Die in den Text der „Schule“ eingebauten „Geheimgänge“ und Tapetentüren sind damit noch nicht erklärt. Sie sind Gegenstand des eigenen Erkundens.

In Die Schule der Atheisten bedient sich Schmidt der Operette und, wie der Titel durchschimmern lässt, auch der Komödie Die Schule der Frauen des französischen Dramatikers Molière. Handlungstragend ist der von Jules Verne verfasste Roman Die Schule der Robinsons und der von dessen Bruder Paul Verne verfasste Reisebericht Von Rotterdam nach Kopenhagen. Beide Bücher wurden deshalb 1978 in einem Band in der Reihe Haidnische Alterthümer bei Zweitausendeins wieder aufgelegt, wie auch der Roman Auf zwei Planeten von Kurd Laßwitz, der Einfluss auf die Science-Fiction-Handlung des Buchs hatte. Als weitere Quellen dienten die Werke von Theodor Storm, Klaus Groth und Gustav Frenssen.

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Die Tafel zum Gedenken an den Aufenthalt Arno Schmidts in der Traube in Tellingstedt

Schmidts Rückgriffe auf Romane von Jean Paul und Ludwig Tieck, aber auch auf ältere Literaturformen, wie die Zaubermärchen des Rokoko, wohl über Christoph Martin Wieland vermittelt, lassen die Schule als Schmidts versöhnlichstes Werk erscheinen – zudem altersweise wie Wilhelm Raabes Spätwerk. (Quelle: wikipedia)

Oder aber auch:

Diese »Novellen-Comödie« in 6 Aufzügen und 80 stark kommentierten szenischen Kapiteln ist ein höchst merkwürdig ernsthafter Spaß, eine »vis comica«, eine Revue mythologischer, religiöser, poetischer & wissenschaftlicher Welterklärungen, ein poetisch-theatraler Diskurs welchen sich der menschliche Geist zum eigenen Genuß vorspielt, vorspiegelt, – schöpfend aus dem dramaturgischen Arsenal barocker Zaubermärchen, Mysterienspiele, Possen mit Liebesidyllen, arkadische Derbheiten & ironische Offenbachiaden.

Im Mittelpunkt des im Jahre 2014 spielenden Geschehens steht der vierundsiebzigjährige William T. Kolderup. Er ist Friedensrichter in einem Reservat. Nach der Aufteilung der Welt in die Hemisphären des US-amerikanischen Matriarchats und des chinesischen Patriarchats haben die beiden Weltmächte je ein Gebiet für sich erhalten, das Kultur, Sitten und Gebräuche der Vergangenheit als touristische Attraktion bewahren soll. Kolderups Tellingstedt, die Erzählstadt also, ist der letzte Rest des alten Europa. Das Reservat rückt für ein paar Tage in den Mittelpunkt der Weltpolitik. Die Außenministerin der USA, Isis, trifft sich hier mit ihrem chinesischen Amtskollegen, um über einen gegenseitigen Duldungsvertrag zu beraten. Durch Kolderups List gelingt es, das Scheitern der Verhandlungen zu verhindern. Ihm ist es auch zu verdanken, daß das Reservat noch einmal verschont wird; denn Isis war auch zur Inspektion nach Tellingstedt gekommen, um zu untersuchen, ob der Luxus dieses kulturhistorischen Museums der Vergangenheit noch weiterhin seinen Sinn habe.

Buchausgaben

Weitere Buchausgaben

In die erste Handlungsebene ist raffiniert ein >Dazwischenspiel< in das Geschehen eingestreut, »das sich am Ende phantasmagorisch wie ein feingesponnener Traum, wie eine kalkuliert ausgeführte Fernsehinszenierung und wie ein pastellhaft-durchsichtiges Diorama auflöst, berichtet von der Reise dreier Atheisten«.

»Die Schule der Atheisten« ist ein vielfältiges Handlungs- und Figurengeflecht, ein komplexer Erzählteppich, der sich zwar gelegentlich in meist karikierten, satirisierten Figuren verdichtet, – doch in bekannt genialer Komposition durchwirkt eine schier unendliche Anzahl poetischer Kombinatoriken & Erfindungen, – jegliche Phantasieschicht der Erzählung, – das gesamte Sprachmaterial. (Quelle: http://www.echoraum.at)

Und hier hören wir nun diese Lesung  – gelesen von drei Enthusiasten: Dabei ist natürlich Jan Philip Reemtsma der bekannteste Name.

Jan Philipp Reemtsma

Jan Philipp Reemtsma

Aber auch ein Bernd Rauschbach ist ein Schwergewicht:

Bernd Rauschenbach (* 30. Juli 1952 in Berlin) ist ein deutscher Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Rezitator.

Rauschenbach studierte Germanistik und Bibliothekswissenschaften an der Technischen Universität Berlin. Seit 1975 veröffentlichte er literarische Werke und wurde 1982 Sekretär der Arno Schmidt Stiftung. Seit 2001 ist er deren geschäftsführender Vorstand. Er lebt in Eldingen, dem nächstgrößeren Nachbarort von Bargfeld, dem Wohnort Arno Schmidts, in dem die Stiftung ansässig ist. Für sie ist er vor allem als Herausgeber tätig, so beteiligte er sich an der Herausgabe der Bargfelder Ausgabe der Werke Arno Schmidts. Außerdem arbeitete er bis ca. 2013 an einer Biographie Schmidts.

Bernd Rauschenbach ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland. (Quelle: wikipedia)

DasVorleserTrio

Bernd Rauschenbach (rechts) gemeinsam mit Joachim Kersten (links) und Jan Philipp Reemtsma (Mitte), Hamburg 2013

Und ja … wer war eigentlich dieser Arno Schmidt.

Sein Haus in Bargfeld ist legendär. Seit 1958 wohnte Arno Schmidt in dem kleinen Heidedorf und empfing kaum noch Besuch. Als er nach der Veröffentlichung von „Die Schule der Atheisten“ 1973 den Goethepreis verliehen bekam, mussten die extra angereisten Journalisten Bauern und den Gastwirt interviewen, weil der Schriftsteller keine Audienzen gab. „Jegliche Berührung mit Anderen setzt erfahrungsgemäß meine Leistung herab und stört mich auf Tage hinaus.“ Immer extremer wurde seine selbst gewählte Isolation. In den letzten zehn Jahren lebte er von seiner Frau Alice durch eine Falltür getrennt in dem winzigen Häuschen. Sie oben, er unten. Für den Notfall gab es zwischen den Stockwerken eine Wechselsprechanlage.

Kamera

Die Kamera des Arno Schmidt (Yashica 44)

Arno Schmidt, der am 18. Januar 1914 als Sonntagskind in Hamburg-Hamm geboren wurde, wollte als Literat ganz hoch hinaus, mindestens so hoch wie James Joyce. Sein Name ging ein in die Geschichte. Wer aber hat ihn wirklich gelesen? In der Schule in Görlitz nennen sie ihn „Allah“, weil er ständig über Religion spricht. Auffallen tut er nur als begnadeter Linealfechter.

In seinen Beruf als Buchhalter kehrt er nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zurück, widmet sich nach einer kurzen Zeit als Polizeidolmetscher ganz dem Schreiben. Hermann Hesse, dem Schmidt seine ersten Texte zuschickte, nannte ihn einen MCBackCover1„modernen Desperado“, der den Krieg mit angesehen hat und einem „seinen Ekel ins Gesicht spuckt“. Selbstherrlich und elitär stilisiert sich da einer zum Genius. Frau Alice inszeniert auf Fotos seine Posen und ist sonst mit Schreibarbeiten als ideale Schriftstellergattin zu seinen Diensten.

Mit „Leviathan“ (1949), „Brand’s Haide“ (1951) und „Aus dem Leben eines Fauns“ (1953) erregt er Aufsehen in der Szene. So was hat man noch nicht gelesen. Dort wütet einer gegen Gott und die Welt. Mit ganz eigenen Worten, einer eigenen Orthografie und Interpunktion, weil die alte Sprache nach dem Krieg nicht mehr zu gebrauchen ist. Vor allem aber, weil er alles, was vor ihm war, überbieten will. „Seelandschaft mit Pocahontas“ bringt ihm eine Anzeige wegen Gotteslästerung ein.

Seine Bücher verkaufen sich kaum. Mit Übersetzungen und Radio-Feuilletons hält er sich über Wasser. Um demonstrativ seine Armut zur Schau zu tragen, trägt er kein Hemd unter der Jacke. Die Recherchen für sein Buch über „Fouqué und einige seiner Zeitgenossen“ (1958) – übrigens bis heute die einzige umfassende Biografie über den Romantiker – erledigt er auf dem Tandem. Wenn ein Verleger ihn zum noblen Essen einlädt, empört Schmidt sich, warum er als Genie hungern muss, während der Geldsack im Überfluss lebt.

Immer mehr steigert er sich in sein Ideal vom stillen Menschen, sucht in der Arbeit Heil. Mit der Uhr stoppt er die Stunden am Schreibtisch. Komplizierte Arbeiten fängt er nur bei fallendem Luftdruck an. Während den Recherchen am Opus magnum, „Zettels Traum“ (1970), steht er morgens um ein Uhr auf. In seiner Laudatio zum Goethepreis, die er von seiner Frau verlesen lässt, wettert er gegen das Geschwafel der 40-Stunden-Woche. „Meine Woche hat immer 100 Stunden gehabt.“

Ein Mensch allein kann die philologische Schnitzeljagd des Buches nicht bewältigen, und so bildet sich bald ein „Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat“. Leben und Literatur verschwimmen immer mehr. Mit Alkohol und Tabletten versucht der Neurotiker, sich am Schreibtisch zu halten. „Man muss sich entscheiden, ob man leben will, oder ein Werk schaffen.“ In seinem letzten Text, „Julia oder die Gemälde“, heißt es: „Die Welt der Kunst & Fantasie ist die wahre, the rest is a nightmare“. Am 3. Juni 1979 muss Arno Schmidt seinem Lebenswandel Tribut zollen. Er stirbt an einem Hirnschlag und liegt in seinem Garten in Bargfeld begraben. (Welf Grombacher)

Arbeitszimmer

Das Arbeitszimmer des Arno Schmidt

Arno Schmidt war wohl ein arg schräger Vogel … Diese Lesung ist auch irgendwie schräg (mehr as einmal hört man die Sprecher hören), aber voller Leidenschaft … also passen diese Aufnahmen gut zu Arno Schmidt.

Erschienen ist die MC in der „Reihe Mitschnitt“ (Verlag Franz Josef Knape, Augsburg) … ich glaub´… da hab´ ich wieder mal was zu recherchieren …

Und vielleicht ist es wieder mal an der Zeit, einen Querdenker zu entdecken, unglaublich seine Wortabrobatik … hier gepaart mit einem schier unglaublichem Reichtum von skurillen, z.T. aberwitzigen Szenerien.

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Besetzung/Die Sprecher:
Joachim Kersten – Bernd Rauschenbach – Jan Philipp Reemtsma
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Titel:
01. Einleitung/Die Schule der Atheisten (Teil 1) 59.10
02. Die Schule der Atheisten (Teil 2) 56.17

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Diese Präsentation war mir nur möglich, weil die Graugans mir diese MC aus ihrem famosen Schallarchiv als Leihgabe zur Verfügung stellte.

Vielen Dank !